017 - Der Engel des Schreckens
Wohnung bedeutete immer Freude und Ruhe für sie. Und wäre sie wirklich ausgegangen, hätte sie ja doch den unvermeidlichen Jaggs auf ihrer Fährte gehabt, sagte sie sich ironisch.
Und doch schlug ihr das Gewissen. Sie mußte an jenen Nachmittag denken, an dem der alte Jaggs sie aus Todesgefahr gerettet hatte.
Zum hundertsten Male dachte sie über den alten Jaggs nach und wo Jack ihn aufgetrieben haben mochte. Einmal hatte sie den Versuch gemacht, Jaggs selbst zu fragen, aber der alte Mann war der Antwort aus dem Weg gegangen, hatte ganz unbestimmt von Arbeit auf dem Lande gesprochen, und Lydia war ebenso schlau wie vorher.
Aber sie mußte den Alten loswerden. Das war ihr letzter Gedanke, als sie das Licht ausschaltete und die unzähligen Wärmflaschen aus dem Bett warf, die Mrs. Morgan in übertriebener Fürsorge hineingelegt hatte. Der alte Jaggs mußte gehen ... er fiel einem auf die Nerven ...
Erschrocken fuhr sie hoch. Die Uhr in der Diele schlug drei; Lydia zählte unbewußt die Schläge, ihre Augen waren starr auf das offene Fenster gerichtet. Mrs. Morgan hatte es angelehnt, jetzt stand es weit offen! Ihr Herz klopfte rasend schnell. Jaggs!
Das war ihr erster Gedanke. Sie hätte es niemals für möglich gehalten, daß sie mit einem so warmen Gefühl von Dankbarkeit an den alten Mann denken konnte.
Nichts war zu sehen. Das Unwetter des Abends war vorübergegangen, und ein schwacher Mondschein drang in das Zimmer. Und dann sah sie, wie sich die Vorhänge bewegten. Sie wollte schreien, aber kein Ton drang aus ihrem Munde; wie gelähmt lag sie da und starrte auf den Vorhang. Langsam bewegte er sich wieder, und deutlich zeichnete sich auf dem dunklen Hintergrund der Umriß einer Gestalt ab.
Der Bann war endlich gebrochen. Sie sprang auf der anderen Seite aus dem Bett, aber der Mann war schneller als sie. Bevor sie noch einen Schrei ausstoßen konnte, hatte eine große Hand sie an der Kehle gepackt und gegen das Fußende des Bettes geschleudert.
Entsetzt starrte sie in das grausame Gesicht, das sich über sie beugte, fühlte, wie sich die Finger um ihre Kehle zusammenzogen. Aber plötzlich änderte sich der Ausdruck des Gesichts über ihr, wurde zur Grimasse, und Schrecken sprach aus seinen Augen. Die schwere Hand glitt von ihrer Kehle, er murmelte etwas mit erstickter Stimme und fiel seitwärts zu Boden. Und jetzt sah sie: Ein Mann war durch die Tür hereingekommen, ein hochgewachsener, bärtiger Mann, dessen blaßblaue Augen in wahnsinniger Lust tanzten.
Langsam kam er auf sie zu, wischte an seinem Ärmel das lange Dolchmesser ab, das ihren Angreifer gefällt hatte, und immer näher kam er ihr ...
Er war wahnsinnig; sie fühlte das instinktiv, erinnerte sich undeutlich, einen Artikel über einen entsprungenen Geisteskranken gelesen zu haben. Sie versuchte, an ihm vorbeizuschlüpfen, nach der offenen Tür zu kommen, aber er packte sie mit dem linken Arm und preßte sie an sich. Sie war machtlos, konnte sich nicht bewegen, kaum atmen.
»Sie hatten kein Recht, in einem Kriegsgericht zu sitzen, Madame«, sagte er mit unheimlicher Höflichkeit -aber in diesem Augenblick flammten die Lampen auf. Der alte Jaggs stand auf der Schwelle; ein häßliches Grinsen spielte um seine bärtigen Lippen, und die Linke hielt eine schwere Pistole. »Das Messer weg oder . . .«
Der wahnsinnige Arzt wandte langsam seinen Kopf dem Eindringling zu und hob die Brauen.
»Guten Morgen, General«, sagte er ruhig. »Sie sind gerade noch zur rechten Zeit gekommen.« Er ließ das Messer fallen. »Wir wollen sie ordnungsgemäß nach den Bestimmungen des Kriegsgerichts verurteilen.«
Kapitel 15
DRAMATISCHER VORFALL IM WESTEND
Wahnsinniger Arzt verwundet Einbrecher im Schlafzimmer einer Dame der Gesellschaft
Die Flucht Dr. Thuns aus der Irrenanstalt von Norwood, die wir in unserer gestrigen Ausgabe erwähnten, hat außergewöhnliche und tragische Folgen gehabt. Auf einen Telefonanruf hin begab sich heute morgen vier Uhr Eetektivsergeant Miller in Begleitung eines zweiten Beamten in die Wohnung von Mrs. Meredith, Cavendish Mansions Nr. 84, und fand dort Dr. Algernon Thun, der aus der Irrenanstalt von Norwood entflohen war. Dr. Thun wurde in Gewahrsam genommen. In dem Zimmer wurde gleichzeitig ein Mann namens Hoggins gefunden, der ein guter Bekannter der Polizei ist. Es scheint, daß Hoggins vom Dach aus mit Hilfe eines Seils in das Schlafzimmer von Mrs. Meredith eingedrungen ist. Mrs. Meredith wäre zweifellos ermordet worden,
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