017 - Der Engel des Schreckens
der Verlegenheit.
»Ich mache die Besorgungen für Madame«, erklärte er zu Lydias Verwunderung in tadellosem Französisch, »und bin der Nachtwächter vom Hause.«
»Ja, ja«, brachte das junge Mädchen hervor, das sich kaum von seiner Überraschung erholen konnte. »Monsieur ist unser Nachtwächter.«
»Bien, Madame«, erwiderte der Gendarm. »Verzeihen Sie die Frage, aber es gibt jetzt sehr viel fremde Menschen hier in der Gegend.«
Sie sahen den Beamten davonfahren. Jaggs kicherte.
»Janz jutes Französisch, Miss. Nich wahr?« Und ohne ein weiteres Wort drehte er sich um und hinkte davon.
Sie blickte verblüfft hinter ihm her. Er verbrachte also jede Nacht im Garten oder irgendwo in der Nähe des Hauses! Es gab ihr ein eigenartiges Gefühl von Sicherheit und Ruhe, das zu wissen.
Als sie zurückkam, fand sie die Dienstboten schon auf und bei der Arbeit. Jean war nicht vor dem Frühstück sichtbar, und Lydia hatte so Gelegenheit, mit der französischen Haushälterin zu sprechen, die Mrs. Cole-Mortimer beim Mieten der Villa engagiert hatte. Sie erfuhr verschiedenes, was sie sofort weitererzählte, als Jean am Frühstückstisch erschien.
»Dem Gärtnerjungen geht es bedeutend besser, Jean.«
»Das weiß ich. Ich habe gestern im Krankenhaus angerufen und mich erkundigt.«
Lydia sah sie erstaunt an; das paßte nach ihrer Meinung so gar nicht zu dem jungen Mädchen.
»Die Mutter ist auch in der Isolierbaracke«, fuhr Lydia fort, »und Madame Souviet sagte mir, daß die arme Frau weder Geld noch Freunde habe. Vielleicht fahre ich heute mal hinaus und sehe zu, ob man irgend etwas für sie tun kann.«
»Lassen Sie das lieber, Lydia«, sagte Mrs. Cole-Mortimer nervös. »Wir können froh sein, daß der Kleine endlich weggeschafft worden ist, bevor wir vielleicht noch angesteckt wurden. Man geht doch solchen Dingen möglichst aus dem Wege. Fahren Sie lieber nicht zum Krankenhaus.«
»Ach Unsinn!« fiel Jean ein. »Wenn Lydia gern hinfahren möchte, sehe ich keinen Grund, warum sie das nicht sollte. Die Patienten auf den Isolierstationen kommen nie mit ihren Besuchern in Berührung. Ansteckungsgefahr ist da nicht zu befürchten.«
»Ich stimme mit Mrs. Cole-Mortimer überein«, brummte Briggerland. »Meiner Ansicht nach ist es töricht, sich unnötigen Gefahren auszusetzen. Lassen Sie sich raten, Lydia, und fahren Sie nicht.«
»Ich sprach heute morgen einen Gendarm«, wechselte Lydia das Thema. »Als er von seinem Fahrrad sprang, dachte ich schon, er wollte über die Schießaffäre mit mir reden. Sie haben sich doch mit der Polizei in Verbindung gesetzt?«
». . . hm . . .ja.« Mr. Briggerland blickte nicht von seinem Teller auf. »Selbstverständlich! Waren Sie in Monte Carlo?«
Lydia schüttelte den Kopf.
»Nein, ich konnte nicht schlafen und machte gerade einen Spaziergang, als er vorbeigefahren kam.« Sie erwähnte Mr. Jaggs nicht. »Die Polizei aus Monte Carlo scheint sehr entgegenkommend zu sein.«
»Sehr!« versetzte Briggerland trocken.
»Hat man denn einen Verdacht, wer der Täter sein könnte?« fragte Lydia, die in ihrer Harmlosigkeit bei einem Thema blieb, das Mr. Briggerland äußerst unangenehm war.
»Ja, die Polizei hat verschiedene Personen im Auge, aber ich möchte Ihnen doch raten, über den Vorfall nicht mit den Behörden zu sprechen. Ich habe ihnen nämlich erzählt«, Mr. Briggerland war auf einen guten Gedanken gekommen, »Sie wüßten gar nicht, daß man auf Sie geschossen hat. Wenn Sie nun darüber sprechen, machen Sie mich etwas lächerlich.«
Als Lydia und Mrs. Cole-Mortimer das Frühstückszimmer verlassen hatten, wandte sich Jean ihrem Vater zu.
»Hoffentlich siehst du jetzt langsam ein, wie unsinnig dein ganzer Plan war, der jetzt eine Lüge nach der anderen erfordert. Es ist gar nicht ausgeschlossen, daß Marcus in seiner Dummheit von der Geschichte in Monte Carlo gesprochen hat, und eines Tages werden wir Kriminalbeamte hier haben, die uns fragen, warum wir die Schießerei nicht angezeigt haben.« »Ja, wenn ich so schlau wäre wie -« »Aber das bist du nicht«, unterbrach Jean und legte sorgfältig ihre Serviette zusammen. »Du bist der - am wenigsten schlaue Mensch, den ich kenne.«
Kapitel 24
Lydia fand in ihrem Zimmer eines der Mädchen beim Aufräumen.
»Oh, Madame, ich habe ganz vergessen, Ihnen etwas zu sagen - hoffentlich werden Sie mir nicht böse sein.«
»Es ist kaum anzunehmen, daß ich an einem so wunderbaren Morgen böse sein kann«, antwortete Lydia
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