017 - Der Engel des Schreckens
im Garten bis in die Villa laufen können - das war ausgeschlossen.
Sie war schon beinahe in Cap Martin, als sie auf dem Boden des Autos ein Paket liegen sah. Sie ließ das Vorderfenster herunter und fragte den Chauffeur. Es war nicht Mordon, sondern ein Mann, den sie zusammen mit dem Wagen gemietet hatte.
»Das Paket ist vom Hospital, Madame«, antwortete er. »Der Portier fragte mich, ob ich von der Villa Casa käme. Es sei von dort etwas zum Desinfizieren geschickt worden; die Rechnung macht sieben Franken, und die habe ich bezahlt.«
Lydia nahm das Paket auf - die Adresse lautete Mademoiselle Jean Briggerland‹, und als Absender war das Krankenhaus angegeben.
Sie legte sich in die Kissen des Wagens zurück und schloß die Augen. Es war zu schwierig für sie, im Augenblick eine Lösung des Rätsels zu finden, aber sie war fest entschlossen, der Sache auf den Grund zu gehen.
Jean war nicht zu Hause, als sie zurückkam, und Lydia nahm das Paket mit auf ihr Zimmer. Sie versuchte, sich des Gedankens zu erwehren, daß wirklich ein so abscheuliches Verbrechen gegen sie versucht worden' sein könne - und doch sprachen alle Anzeichen dafür. Es mußte irgendeine Erklärung für das Auffinden des kleinen Kreuzes in ihrem Bett gefunden werden. Möglicherweise hatte man es überhaupt erst gesehen, als die durchnäßten Laken schon entfernt worden waren.
Sie läutete nach dem Mädchen.
»Sagen Sie mal«, sprach Lydia sie an, »wo haben Sie das kleine Kreuz eigentlich gefunden?«
»In Ihrem Bett, Madame.«
»Bevor das Bettzeug weggebracht wurde oder nacher?«
»Vorher, Madame«, war die Antwort. »Als wir die Bettdecke zurückschlugen, lag es genau in der Mitte des Lakens.«
Lydia fühlte ihr Herz pochen.
»Danke bestens. Ich habe den Eigentümer des Kreuzes gefunden und es zurückgegeben.«
Sollte sie mit Jean darüber sprechen? Ihr erster Gedanke war, sich dem jungen Mädchen anzuvertrauen. Ihr zweiter ging zu dem alten Jaggs, aber wo konnte sie ihn finden? Er wohnte offenbar in der Nähe Monte Carlos, aber es war kaum anzunehmen, daß sein Name auf der Fremdenliste des kleinen Fürstentums zu finden war.
Sie war noch zu keinem Entschluß gekommen, als Marcus Stepney in der Villa erschien, um sie zum Lunch im ›Cafe de Paris‹ abzuholen.
Die ganze Angelegenheit war doch so gänzlich unwahrscheinlich, gehörte zu einer unwirklichen Welt - aber lebte sie selbst nicht schon die ganzen letzten Wochen in einer solchen unwahrscheinlichen Welt?
Kapitel 25
Mr. Stepney war ihr etwas nähergerückt. Noch vor einer Woche hätte sie den Gedanken von sich gewiesen, mit ihm zusammen den Lunch einzunehmen, aber jetzt lag die Sache ein wenig anders. Seine Ansichten über Dinge und Menschen waren vernünftiger, als sie erwartet hatte. Lydia glaubte, eine zynische Einstellung bei Stepney zu finden, mußte aber zu ihrer Überraschung feststellen, daß er im großen und ganzen harmlos freundlich dachte. Hätte sie Mr. Marcus Stepney so gut gekannt wie Jean, so hätte sie gewußt, daß er sein Verhalten völlig seiner Umgebung anpaßte. Er war ein Mann, dessen Kapital hauptsächlich in guter Kenntnis der menschlichen Natur und in seiner Geschicklichkeit bestand, allen zu gefallen. Er hätte nie versucht, sie zu verletzen oder zu erschrecken, und glich darin einem tüchtigen Verkäufer, der seine Kunden mit größter Zuvorkommenheit und Umsicht behandelt.
Und er hatte Waren zu verkaufen - an ihm lag es, daß sie dem Käufer gefielen. Und es war beinahe ebenso wichtig, daß der Kauf möglichst bald zum Abschluß kam. Mr. Stepney lebte von einer Woche zur anderen -was sich im nächsten Jahre ereignen konnte, interessierte ihn heute nicht... Aber er mußte Lydia zu einem schnellen Entschluß treiben.
Beim Lunch erzählte er ihr seine Lebensgeschichte. Daß diese Lebensgeschichte ebenso wechselte wie seine Zuhörer, war selbstverständlich. In diesem Fall war es die -Geschichte eines Mannes, der schwer zu kämpfen hatte, dessen Vater unter Hinterlassung großer Schulden gestorben war, eines Mannes, der die Bitterkeit des Daseins ausgekostet hatte. Jean hatte ihm den Lebensweg Lydias sehr genau geschildert, und Mr. Marcus Stepney hatte diese Mitteilungen für seinen eigenen Gebrauch verwendet.
»Wie eigenartig«, rief Lydia, »Ihr Leben ist beinahe so gewesen wie das meine.«
»Und ist das nicht bedeutungsvoll?« fragte Mr. Stepney, in dessen Ton eine leise traurige Note mitschwang. »Ich bin ein sehr einsamer Mensch - habe
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