017 - Der Engel des Schreckens
zum ersten Male nach dem Vorfall allein.
»Was ist vorgefallen?« fragte sie kurz.
»Ich hatte eine kleine Überraschung für dich vorbereitet, Kleine. Ein Plan von mir! Du behauptest doch immer, ich hätte Angst, und da wollte ich dir beweisen -«
»Was ist vorgefallen?« unterbrach sie schroff.
»Also gut - gestern morgen habe ich die ganze Sache vorbereitet. Das Gewehr, ein altes englisches, hatte ich schon vor längerer Zeit in Amiens einem Bauern abgekauft. Ich dachte, eines Tages könnte man es vielleicht gebrauchen, zumal der Mann noch ein Paket Patronen zugab. Und dann habe ich mir gestern morgen - ich konnte nicht mehr schlafen - alles überlegt. Ich kletterte auf den Hügel - das Land gehört übrigens zu dem leerstehenden Haus hier in der Nähe -, fand einen geeigneten Platz, versteckte das Gewehr, wo ich es leicht und schnell wiederfinden konnte, und band eine Brille so an einen Zweig, daß die Gläser von der Sonne getroffen werden mußten.«
»Und dann-?«
»Ich dachte, wir würden gestern schon baden, aber auch heute dauerte es geraume Zeit, bis jemand die Brillengläser entdeckt hatte. Aber sobald ich erst einmal einen Grund hatte, an Land zu gehen und nachzusehen, wer sich da versteckt haben mochte, war der Rest sehr einfach.«
Sie nickte.
»Darum sollte ich sie also auf dem Floß zurückhalten und sich aufrecht hinstellen lassen?«
Jetzt nickte Mr. Briggerland.
»Na, und -?«
»Ich lief auf die kleine Lichtung, nahm das Gewehr und zielte. Ich bin immer ein guter Schütze gewesen -«
»Heute hast du davon wenig sehen lassen«, unterbrach sie ihn spöttisch. »Und dann erhieltest du, wie ich annehme, einen Schlag auf den Kopf.«
Er nickte und verzog das Gesicht; jede Bewegung seines Kopfes bereitete ihm große Schmerzen.
»Und wer war es?« fragte sie.
Er zuckte die Achseln.
»Frag doch nicht so dumm«, sagte er gereizt. »Ich weiß es nicht, fühlte nicht einmal den Schlag. Ich weiß nur noch, daß ich zielte, und auf einmal wurde alles dunkel um mich herum.«
»Und welche Erklärung würdest du gegeben haben, wenn alles so abgelaufen wäre, wie du es dir ausgemalt hattest?«
»Sehr einfach. Ich war doch auf der Suche nach dem Mann, dessen Gläser wir alle gesehen hatten - dann hätte ich eben einen Schuß gehört, mich durch das Gebüsch gearbeitet und nichts gefunden - nur das Gewehr!«
Jean biß sich nachdenklich auf die Lippen.
»Und du setztest dich der Gefahr aus, von einem Fremden oder einem Bauern gesehen zu werden, setztest dich der Gefahr aus, daß die Polizei da oben herumsucht und eine fahrlässige Tötung, so hätte es ja vielleicht aussehen können, in einen wohlüberlegten Mord umwandelt? Das nennst du Strategie?«
»Ich habe mir die größte Mühe gegeben«, brummte er.
»Tu das bitte nicht wieder, Vater, deine unüberlegte Tollkühnheit macht mir angst, und weiß der Himmel, ich hätte es nie für möglich gehalten, daß ich dich einmal tollkühn nennen würde.«
Mit diesen Worten verließ sie ihn. Die Heldenverehrung Mrs. Cole-Mortimers würde die kleine Wunde schon heilen, die sie seinem Selbstbewußtsein zugefügt hatte.
Der ›Unglücksfall‹ hielt sie alle an diesem Abend zu Hause, und Lydia war nicht traurig darüber. Eine geschnitzte Bank ist keine zu bequeme Schlafgelegenheit, und Lydia freute sich auf ein richtiges, behagliches Bett. Mit Mühe unterdrückte sie ihr Gähnen, bis sich schließlich Mr. Stepney gekränkt empfahl.
Die Nacht war wärmer geworden, der Föhn blies von den Bergen herunter, und die Luft in ihrem Zimmer war beklemmend. Lydia öffnete die große Fenstertür und trat auf den Balkon. Der Mond stand in seinem letzten Viertel, und sein gedämpftes Licht warf unheimliche Schatten in den großen Garten zu ihren Füßen.
Sie lehnte ihre Arme auf die Brüstung und blickte über die See hinweg auf die Lichter von Monte Carlo. Dann glitten ihre Augen über den Park - sie fuhr zusammen. Sie hätte darauf geschworen, im Schatten der Bäume eine Gestalt gesehen zu haben, und hatte sich auch nicht getäuscht.
Die Gestalt trat aus dem Gebüsch heraus, blickte nach rechts und links und schritt vorsichtig über den Rasenplatz. Erst glaubte sie, Marcus Stepney sei zurückgekommen, aber dann kam ihr der Gang des Mannes da unten so bekannt vor. Endlich blieb er unter dem Balkon stehen und blickte zu ihr empor. Lydia schrie leise auf. In dem Ungewissen Mondlicht erkannte sie das eisgraue Haar und die buschigen Augenbrauen des
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