0184 - Der Kraken-Götze
Baßfiguren verwendete, sah man in Freienhagen nicht so eng.
Die langhaarige Gestalt am Klavier wollte dazu gar nicht recht passen. Ronald Berger, von seinen Freunden ›Ronny‹ gerufen, spielte auch viel lieber Rock-Musik im Stile von Status Quo. Seine wilden Läufe auf dem Piano sorgten kaum dafür, daß die Musik ins Ohr ging. Aber Ronny fühlte sich dazu berufen, sein ganzes Feeling in die deutsche Volksmusik zu legen. Das paßte ungefähr genausogut wie ein Jazz-Piano in eine Sinfonie von Beethoven.
Verzweifelt bemühten sich der Mann mit der Trompete und die Figur, die abwechselnd Saxophon und Klarinette blies, hier noch so etwas wie Musik zu machen. Wie die Löwen kämpften sie, um noch wenigstens die musikalischen Leitthemen der Musik erkennbar zu machen. Beide spielten nebenbei in einer Dixieland-Band. Sie machten die Tanzmusik während der Karnevals- und Kirmessaison, weil es Geld brachte.
Das Spielen sollte ihnen noch sauer gemacht werden. Die Dorfburschen, diese Lausejungen, beschafften nämlich Gurken und Zitronenscheiben und bissen vor den beiden Bläsern herzhaft hinein. Denen zog sich alles im Munde zusammen. Sie mußten mit dem Spielen kurzzeitig aussetzen. Der Erfolg war ein musikalisches Fiasko, eine Mischung zwischen Modem-Jazz und Punk-Rock. Nur der erhöhte Grad der allgemeinen Trunkenheit bewahrte die »Fidelen Dragoner« davor, von der Bühne gejagt zu werden.
Die Krönung des Orchesters aber bildete Ferdinand Vogel an der Stehgeige. Dieses alte, in Ehren ergraute Männlein war in früheren, besseren Zeiten Berufsmusiker gewesen und besserte hier seine kärgliche Rente auf. Er hatte in der ›guten alten Zeit‹, wie er sie bezeichnete, in den großen Orchestern und den feinsten Salons von Berlin gespielt. Für ihn war Musik sein Lebenselexier, falsche Töne schnitten ihm förmlich ins Herz, ließen das Gesicht unter dem grauen Haar rot anschwellen. Er fiedelte wie ein Besessener in der Hoffnung, daß es die anderen hören würden und sich seinem Spiel anpaßten. Aber das gnadenlos scheppernde Schlagzeug und der in allen Tonlagen falsch brummende Baß führten Ferdinand Vogel verzweifelte Bemühungen ad absurdum.
»Rudi Ratlos heißt der Geiger, der streicht uns grad ’nen Evergreen«, gröhlten die Dorfburschen und sorgten dafür, daß sich Vogels Laune nicht besserte. Er sah diesen Song von Udo Lindenberg als Verhöhnung seiner Musikerlaufbahn an. Ein Blick eisiger Verachtung streifte die Sänger.
Am Eingang, da wo der Festveranstalter die Kasse aufgebaut hatte, gab es plötzlich Bewegung. »Erst Eintritt bezahlen…«, konnte man eine keifende Stimme vernehmen. »… es ist wichtig, das müssen alle wissen«, verschaffte sich Jürgen Reisewitz Gehör. Susi Brandner drängte sich an ihn. »Ja, ich habe es auch gesehen«, rief sie dazwischen. »Er wird uns alle holen. Er kommt direkt auf das Dorf zu.«
»Was ist? Wollt ihr nun Eintritt bezahlen?« baute sich ein Mann vom Festkomitee vor Jürgen Reisewitz auf. »Ansonsten könnt ihr nämlich hier verschwinden.«
»Aber ich habe ihn deutlich gesehen«, rief Zoppo und ignorierte die Aufforderung, Eintritt zu zahlen. »Es war Siegmund Stoller, der Säufer, der vor ein paar Tagen beerdigt wurde. Und er lebt…« Krampfhaft nickte Susi Brandner zur Bestätigung.
»Geh mal wieder zum Friseur!« war der Kommentar des Festzerberus, der den Eingang sperrte. Auf Zoppos Gesicht malte sich eine Frage nach dem tieferen Sinn dieser zusammenhanglosen Bemerkung. »Das Märchen kannst du nämlich deinem Friseur erzählen«, bemerkte Zoppos Gegenüber süffisant, »der muß sich das nämlich anhören, während er dir die Haare schneidet. Also, wie ist das nun mit den Kohlen?«
»Aber es geht um Leben und Tod«, schrillte Susi Brandner erregt. »Wir müssen alle warnen und…« Ihre Stimme brach ab, Zoppo hatte schon gehandelt. Wie immer war er auch diesmal finanziell total blank und hätte, selbst wenn er wollte, den Eintritt nicht zahlen können. Zoppo nahm Maß, und der Weg war frei. Während sein Gegner zwischen zwei Tischen niederging, wieselte Jürgen Reisewitz zur Bühne. Mit einem Satz, der einen Leoparden beschämt hätte, war er auf dem Podest.
Die »Fidelen Dragoner« sahen sich an. Sollte hier eine Einlage gebracht werden? »Hört auf!« brüllte sie Jürgen an, »ich muß was Wichtiges sagen!«
»Na, dann - Tusch!« lallte der schon völlig betrunkene Schlagzeuger, der gleichzeitig Kapellenleiter war. Es gab ein Getöse, das jede
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