0184 - Der Kraken-Götze
Vater des geliebten Mädchens handelte, er sah nur, daß ein Mensch in tödlicher Gefahr schwebte. Er konnte sich später nicht mehr erinnern, wie er von der Bühne gewirbelt war, wie er sich gewaltsam Bahn gebrochen hatte durch die Schar derer, die bis zum Bühnenrand zurückgewichen waren und insgeheim sich glücklich schätzten, daß es einen anderen erwischt hatte. Zoppo ahnte, daß seine einzige Chance in einem Blitzangñff liegen würde. Die tödliche Hand hatte die Kehle Brandners noch nicht erreicht und Zoppo sah, daß der Tote die andere Hand nur in das Jackett gekrallt hatte. Dieses Textil würde bei dem Kampf zum Teufel gehen. Denn Zoppo zweifelte nicht, daß der Tote über gewaltige Kräfte verfügen würde und das, was er einmal gepackt hatte, nicht so leicht wieder hergab.
Während Zoppo auf den Gegner stürmte, angelte seine Rechte einen Stuhl. Sein kräftiger Arm ließ das Möbel einen Kreisbogen in der Luft beschreiben und von oben herab auf den Arm des Toten sausen.
Von der Wucht des Schlages wurde der Arm Stollers nach unten gerissen. Im gleichen Moment hatte Zoppo Susis Vater gepackt und das Jackett aufgerissen. Abgerissene Knöpfe flogen durch die Gegend.
»Ausziehen!« brüllte Zoppo den verständnislos blickenden Brandner an. »Los, ziehen Sie die Kutte aus!« Und noch ehe der würdige Beamte der Kreisverwaltung noch begriffen hatte, was hier vorging, hatte Zoppo ihn schon aus dem Textil gewickelt. Wen kümmerte es, daß der Stoff riß, daß das maßgeschneiderte Jackett in den Händen des Ungeheuers aus dem Grabe blieb. Mit aller Kraft stieß Jürgen den Geretteten zu den anderen und brachte sich selbst mit einem schnellen Sprung in Sicherheit. Die Hand des Toten kratzte über das schwarze Leder seiner Jacke, aber auch Zoppo war dem Tode entronnen.
Platschend ließ der aus dem Totenreich zurückgekehrte die wertlose Jacke fallen. Die toten Augen streiften die Menge. Außer einige, die im Zustand der Volltrunkenheit vor sich hinlallten oder ihren Rausch ausschliefen, ahnten alle die Gefahr, in der sie schwebten. Das Opfer war gerettet. Vorerst wenigstens. Denn er würde sich ein Neues erwählen. Und die Furcht keimte in jedem Herzen, nun selbst das Opfer zu werden.
Da erhob sich eine Stimme im Saal, die alle kannten und der alle vertrauten.
***
Georg Schygalla war der Pfarrer der Dorfkirche von Freienhagen. Über übermäßigen Besucherstrom in seiner Kirche konnte er sich kaum beklagen. Die meisten seiner Gemeindeschäfchen sah er nach der Konfirmation nicht wieder und er wunderte sich dann, wenn erwachsene Menschen, die eine Trauung bei ihm bestellten, der Ansicht waren, er müsse sie doch noch kennen. Immerhin habe er ihnen doch das Abendmahl gereicht. Nein, besondere Frömmlinge hatte Georg Schygalla nicht in seiner Herde, aber er war überall im Dorf geachtet und als Nachbar gut angesehen. Schygalla wußte, daß seine Gemeindemitglieder auch an Gott glaubten, ohne jeden Sonntag in der Kirche zu erscheinen.
Georg Schygalla selbst glaubte zwar nicht jedes Jota, das in der Bibel geschrieben steht, aber seinen Glauben an Gott konnte niemand anzweifeln. Wer aber Gott anerkennt, muß auch dem Negativ Gottes, dem Teufel, die Existenz zuerkennen. Schygalla, der in Freienhagen das Wort Gottes predigte, wußte, daß die Kräfte des Bösen in der Welt ständig lauerten.
Er selbst hatte Siegmund Stoller im Sarg liegen sehen, hatte die letzten Gebete über sein Grab gesprochen und die erste Schaufel Erde über den Sarg geworfen. Und nun sah er den Körper dessen, der in geweihter Erde bestattet worden war, mit allen Anzeichen des Lebens vor sich. Das Böse hatte seine Hand im Spiel - die stierenden Augen des Untoten wanderten im Kreise der zurückweichenden Dorfbewohner, mechanisch setzte sich der tote Körper in Bewegung, um ein neues Opfer für seinen Herrn und Gebieter zu ergreifen.
Dem Wirken des Satans mußte Einhalt geboten werden. Georg Schygalla stärkte sein Gemüt mit einem stummen Gebet, dann straffte sich seine Gestalt. Seine kräftigen Arme rissen einen Stuhl hoch, mit drei mächtigen Sprüngen stand er vor der Bestie aus dem Totenreich. »Im Namen Jesu Christi befehle ich dir, zu verschwinden!« brüllte der Geistliche. Der mit Schwung vorangetragene Stuhl traf Siegmund Stollers Gestalt und warf sie zurück. Der Tote taumelte. Durch die Wucht des Anpralls war der Stuhl, der schon manche Kirmes im ›Roten Roß‹ erlebt hatte, zu Bruch gegangen. Der streitbare Pfarrer hielt nur
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