019 - Bei Vollmond wird gepfählt
gewohnt haben muß. Dann verschwand sie spurlos.« Er blies einen Rauchkringel in die Luft und sah träumerisch zu, wie er sich auflöste. »Merkwürdig ist, daß Susan Kendall ihrer Freundin gegenüber steif und fest behauptete, sie wohne nicht im Haus der Kanes. Sie gab eine ganz andere Adresse an, wo sie niemals gesehen wurde.«
»Haben Sie ein Foto von Susan?«
Der Privatdetektiv zeigte ihm das Bild einer jungen Frau mit blonden Locken und einem schmalen Gesicht. Sie hatte große Rehaugen und mochte achtzehn oder neunzehn Jahre alt sein.
Mit der schwarzhaarigen Frau, die Dorian vor einigen Tagen in der Vollmondnacht gepfählt im Haus Kane gefunden hatte, hatte sie keine Ähnlichkeit.
»Weshalb interessieren Sie sich für die alten Kanes?« fragte der Privatdetektiv nun seinerseits.
»Meine Abteilung bearbeitet mysteriöse und übernatürliche Ereignisse«, antwortete Dorian vorsichtig. »Im Hause Kane gehen seltsame Dinge vor. Ich will ihnen auf den Grund gehen.«
»Wie? Wollen Sie etwa sagen, daß Sie eine Art Gespensterjäger sind?«
»Ich jage und bekämpfe keine Gespenster und Trugbilder, sondern sehr reale Dinge, Mr. Halloway. Die Inquisitionsabteilung ist streng geheim und mit Vollmachten ausgerüstet, von denen Sie sich keine Vorstellung machen können. Mehr kann und will ich dazu nicht sagen. Haben Sie im Verlauf Ihrer Nachforschungen etwas herausgefunden, das Ihnen unerklärlich schien? Gab es vielleicht einmal eine Tragödie im Hause Kane? Wissen Sie Näheres über den Spuk, von dem hier gemunkelt wird?«
»Viele Fragen auf einmal, Mr. Hunter. Beantworten Sie mir zunächst einmal eine: Haben Sie diese Miß Bell bei den alten Kanes eingeschleust?«
»Nein, das nicht, aber ich bin … hm, ein guter Bekannter von Miß Bell. Sie erzählt mir alles, was sie über die Kanes und das alte Haus in Erfahrung bringen kann.«
»Gut, ich sehe, eine Zusammenarbeit lohnt sich. Im Laufe meiner Nachforschungen habe ich herausgefunden, daß sich in diesem Haus tatsächlich einmal eine Tragödie ereignet hat. In den zwanziger Jahren wurde Laura Kane von ihrem Mann verlassen. Sie blieb mit den beiden Kindern Liza und Jimmy allein zurück. Ihre Mittel waren knapp, und deshalb mußte sie Untermieter ins Haus nehmen. Im Jahre 1929 kam ein gewisser Keystone als Untermieter ins Haus.«
Dorian war wie elektrisiert. Als er nach einem Zimmer fragte, hatte die Greisin Liza gesagt, Mr. Keystone dulde es nicht, daß ein Mann sich im Haus einquartiert. Aber das konnte doch wohl kaum der gleiche Mr. Keystone sein, der 1929 dort eingezogen war. Oder doch? Dämonen hatten ein langes Leben.
»Eines Nachts nun wurden die Nachbarn durch einen gräßlichen Schrei aus dem Hause Kane aufgeschreckt, und kurz darauf hörte man das entsetzte Gekreische der beiden Kinder, der neunzehnjährigen Liza und des zehnjährigen Jimmy, im Garten. Die Nachbarn eilten herzu. Lizas Kleid war über und über mit Blut befleckt, so berichteten Augenzeugen. Sie und Jimmy waren völlig verstört; sie weinten und schrien wie von Sinnen. Liza rief, Mr. Keystone habe ihre Mutter auf dem Gewissen, und sie würde nie wieder im Leben eine ruhige Minute haben. Die Nachbarn stürzten ins Haus, aber sie fanden nichts. Das Schlafzimmer des Untermieters war in Unordnung, und er und Laura Kane waren spurlos verschwunden. Man hat nie wieder etwas von ihnen gehört. Da es kein Opfer gab und auch kein Motiv, wurde die Sache nicht weiterverfolgt. Liza schwieg von ihren wirren Reden im Schockzustand abgesehen wie ein Grab, und der kleine Jimmy wußte ohnehin nichts, da er im Erdgeschoß zurückgeblieben war, während Liza in den ersten Stock hinaufrannte. Als er sie blutbesudelt und schreiend herunterkommen sah, wurde er von ihrer Hysterie angesteckt.« Der Privatdetektiv drückte seine Zigarette im Aschenbecher aus und trank einen Schluck Tee. »Man nahm an, Laura Kane sei mit ihrem Untermieter durchgegangen, und Liza habe einen Schock erlitten, als ihr klar wurde, daß die Mutter sie und ihren Bruder einfach im Stich gelassen hatte. Jimmy kam in ein Waisenhaus, Liza blieb im Haus Kane. Sie arbeitete in einem Modegeschäft in Belgravia. Als sie volljährig geworden war, nahm sie ihren Bruder Jimmy zu sich und sorgte für ihn. Sie weigerte sich entschieden, das große alte Haus der Kanes aufzugeben, und sie nahm nie mehr als eine Untermieterin auf. Jimmy war später bis zu seiner Pensionierung bei der Eisenbahn angestellt. Die beiden heirateten nie, obwohl sich
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