0196 - Die Mörderklaue
verdammten Nerven. Sie spielen mir wieder einen Streich.
Die Frau verließ die Küche und ließ das Licht brennen. Als Streifen fiel es in den Flur, und Marga erkannte abermals unten an der Tür die Kratzer.
Sie sorgte sich schon, denn normal waren sie nicht. Von irgend jemandem mußten sie stammen, es sah wirklich so aus, als hätten fünf Finger dort ihre Spuren hinterlassen.
Marga war es nicht, und Iris kam auch nicht in Frage. Sie hatte das Bett in den letzten Tagen überhaupt nicht verlassen. Ein Haustier besaßen sie auch nicht, also kam nur eine dritte Person in Betracht.
Ein Dieb?
Marga blieb unwillkürlich stehen und schaute sich um. Wenn sie daran dachte, einen Dieb oder einen Fremden in der Wohnung zu haben, dann wurde ihr ganz anders.
Aber dann hätte sie etwas gehört oder geahnt. Hier war alles ruhig geblieben.
Vielleicht sollte sie später, wenn Iris schlief, die Wohnung einmal durchsuchen. Das war wohl das beste. Mit diesem Gedanken stieß Marga Dexter auch die Tür auf.
Iris lag im Bett. Deutlich sah Marga das blasse Gesicht ihrer Tochter im Schein der Lampe. Es war schmal geworden, und auch die Augen zeigten nicht mehr den Glanz wie früher.
Marga schritt auf das Bett zu. Sie ging dabei auf Zehenspitzen, denn das hatte sie sich in den letzten Tagen angewöhnt. »Iris, ich bringe dir deinen Saft.«
Sie sprach die Worte leise aus, wie immer. Laute Geräusche und Schreien konnte das Mädchen nicht vertragen.
»Iris, bitte…«
Das Mädchen gab keine Antwort.
Die Frau schluckte. Eine schreckliche Ahnung stieg in ihr hoch. »Iris?«
Die Stimme klang schon schriller.
Als sie abermals keine Antwort bekam und noch einen Schritt vorging, wurde die Ahnung zur Gewißheit.
Iris war tot!
***
»Nein!«
Nur dieses eine Wort flüsterte Marga Dexter. Doch in ihm lag all das, was sie fühlte. Angst, Erschrecken, Panik und auch eine ungeheure Resignation.
Ja, es war alles umsonst gewesen. Wie in Trance starrte Marga auf das bleiche Gesicht ihrer Tochter. Die Frau merkte nicht, daß ihre Hände feuchter wurden und sie auch das Glas nicht mehr halten konnte. Es rutschte ihr aus den Fingern, fiel zu Boden, und der gelbe Inhalt ergoß sich über den Teppich.
»Iris!« Marga fiel in die Knie. Sie warf sich vor und preßte ihr Gesicht gegen die Wange der Toten. Der Schmerz übermannte sie, und Marga ließ ihren Tränen freien Lauf.
Immer wieder flüsterte sie den Namen der Tochter. Obwohl sie damit hatte rechnen müssen, warf sie der Tod völlig aus der Bahn. Sie hatte ihn nicht gewollt, keiner hatte ihn gewollt. Der Sensenmann hatte sich einfach genommen, was er wollte. Die Todesahnungen der Tochter hatten sich bestätigt.
Iris gab keine Antwort, so sehr ihre Mutter auch flehte und bettelte.
Bleich und wächsern wirkte ihr Gesicht, wie es auf dem Kissen lag. Starr schauten die Augen ins Leere. Die Lippen waren fast so blaß wie die Haut des Gesichts.
Marga richtete sich wieder auf. Wo sie geweint hatte, war das Kissen naß. Diese Frau hatte in den letzten Jahren alles verloren. Erst ihren Mann, jetzt die Tochter.
Sie schluckte, streckte ihre Arme aus und umfaßte das Gesicht der Tochter mit beiden Händen. »Du bist doch nicht tot, Iris. Bitte, sag, daß du nicht tot bist.«
Iris schwieg.
»Wolltest du nicht den Tod besiegen? Hast du nicht immer mit dem Sensenmann gesprochen? Er war doch dein Freund. Warum hat er dich denn jetzt in sein kaltes Reich geholt, Iris? Warum, zum Teufel? Warum nur?«
Tote schweigen. Auch Iris tat es.
Marga hob die Decke hoch, und ihre Hand glitt über den Körper. Sie spürte, daß das Herz schlug und preßte ihr Ohr dagegen. Vielleicht war Iris gar nicht tot, sondern nur scheintot.
Man las schließlich soviel. Jede Möglichkeit mußte da in Betracht gezogen werden. Nichts…
Sie spürte keinen Schlag, obwohl sie im ersten Moment zusammenzuckte, weil sie etwas gehört hatte, aber das war nur ihr eigenes Blut, das in den Ohren rauschte, und zudem hörte sie auch das Hämmern in der Schläfe.
Iris war nicht mehr zu retten. Sie würde in einen Sarg gelegt werden, der in die Erde kam, und dort sollte Iris dann vermodern und zerfallen.
Die schöne Iris.
»Nein!« flüsterte Marga, »nein, du sollst nicht verderben. Du kommst in kein kühles Loch, sondern wirst…«
Was sie vorhatte, war nicht zu verstehen, denn sie sprang auf und schaute sich um.
Dabei fiel ihr auf, daß sich das Oberbett verschoben hatte. Es lag längst nicht mehr akkurat wie zuvor. Marga wollte
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