0196 - Die Mörderklaue
wurde.
»Bitte, machen Sie auf, bitte…« Lady Sarah öffnete.
Eine Frau wankte in den Flur, lehnte sich gegen die Wand und atmete heftig. Ihre Augen waren aufgerissen. Das Licht fiel auf ein leichenblasses Gesicht. Der Schweiß glänzte, als hätte man die Haut mit Öl eingerieben.
Etwas Schreckliches mußte dieser Frau widerfahren sein, das sah ich sofort.
Lady Sarah schaute mich an. Sie verstand die Frage, die in meinem Gesicht geschrieben stand. »Ja, John, ich kenne sie. Mrs. Dexter wohnt im Nebenhaus.« Dann trat sie einen Schritt vor und legte einen Arm um die verzweifelte Besucherin. »Beruhigen Sie sich doch, Mrs. Dexter. So schlimm kann es nicht sein.«
»Ist es aber«, schluchzte die Frau.
»Was ist denn passiert?«
»Sie…sie ist tot.«
»Wer ist tot?«
Mrs. Dexter hob den Kopf. Ihre Augen nahmen einen völlig anderen Ausdruck an. Sie blickten ins Leere, in unendliche Fernen, und ihre Lippen schienen sich unter Zwang zu bewegen. »Iris, Mrs. Goldwyn. Iris ist gestorben.«
»Nein!« Erschrecken zeichnete ihr Gesicht.
»Doch. Sie wissen ja, seit einigen Tagen geht das schon so. Iris verfiel immer mehr. Sie aß nichts, sie trank nichts, sie nahm nichts mehr zu sich. Es war grauenhaft, wirklich.«
»Was sagte denn der Arzt?«
»Ich habe keinen Arzt geholt.«
»Nicht?«
»Nein.«
»Aber warum nicht? Wenn jemand krank darniederliegt, dann muß man einen Arzt holen.«
»Wir haben nie einen Arzt gebraucht, Mrs. Goldwyn.«
Lady Sarah warf mir einen verständnisvollen Blick zu. Auch ich mußte zugeben, daß ich so etwas noch nie gehört hatte. Das war sehr seltsam, fand ich.
»Wollen wir nicht zu Ihrer Tochter gehen?« fragte ich.
Mrs. Dexter schaute mich an. »Wenn Sie meinen, Mister.« Sie schluckte.
»Gehen Sie mit, Mrs. Goldwyn?«
»Natürlich, ich begleite Sie.« Sie wollte sich schon in Bewegung setzen, wurde jedoch aufgehalten, denn Marga Dexter sagte: »Da ist noch etwas, das Sie wissen sollten. Meine…meine Tochter hat sich verändert, seit sie tot ist. Ihre…ihre Hand hat sich verändert. Sie ist…sie ist auf einmal grün geworden!«
Wir schwiegen. Entweder hatte sich die Frau das nur eingebildet, oder es war tatsächlich passiert. Wenn sie aber recht hatte, dann hatte dieses Grünwerden der Hand bestimmt keine natürliche Ursache. Und so etwas konnte leicht ein Fall für mich werden.
Obwohl ich noch keine Beweise hatte, dachte ich so. Das macht eben der Beruf.
Auf jeden Fall war ich sehr gespannt.
***
Draußen klatschte uns der nasse Schnee ins Gesicht. Die Flocken waren dick und sehr schwer. Auf dem warmen Boden schmolzen sie sofort weg. Ich sah meinen Bentley am Straßenrand stehen. Die Scheiben hatten einen Belag bekommen, der mich an durchsichtigen Gelee erinnerte.
Der Einfachheit halber schritten wir quer durch den Vorgarten. Auch Mrs. Dexter hatte diesen Weg bereits genommen, und so erreichten wir nach wenigen Schritten das Haus, dessen Tür noch offenstand. Es war ähnlich gebaut wie das der Lady Sarah Goldwyn, nur wohnten hier drei Mietparteien.
»Wir müssen in den ersten Stock«, sagte die Horror-Oma und knipste das Licht an.
Mrs. Dexter ging vor. Die wesentlich jüngere Frau wurde dabei von der älteren gestützt.
Das Treppenhaus roch nach Bohnerwachs. Dunkel schimmerte das Holz, die Geländerpfosten zeigten noch hervorragende Drechslerarbeit.
Auch die Wohnungstür hatte Mrs. Dexter nicht geschlossen. Sie blieb davor stehen und streckte den Arm aus. »Dahinter liegt sie. In ihrem Zimmer, im…im Bett.«
»Ist ja schon gut«, beruhigte Sarah Goldwyn die verzweifelte Frau. »Ist ja schon gut. Wir schauen jetzt nach.«
»Ich will nicht.«
Irgendwie konnte ich die Frau verstehen. Als ich Mrs. Goldwyns Nicken sah, ging ich vor. In der Diele brannte das Licht. Ich sah vier Türen. Zwei davon standen offen. Hinter einer lag die Küche, deshalb nahm ich mir die andere vor.
Auf der Schwelle blieb ich stehen. Wie Mrs. Dexter erzählt hatte, lag die Tote in ihrem Bett. Dabei sah das Mädchen aus, als würde es schlafen.
Obwohl ich noch relativ weit vom Bett entfernt stand, konnte ich erkennen, daß Iris nicht älter als siebzehn Jahre war. Eher noch jünger.
Sie hatte ein schmales Gesicht und dunkelblondes Haar, das halblang geschnitten war und sich zu beiden Seiten ihres Kopfes auf dem Kissen verteilt hatte.
Auf Zehenspitzen schritt ich näher, weil ich die Stille des Totenzimmers nicht unterbrechen wollte. Von ihren Händen sah ich nichts. Das Oberbett mußte
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