02 - Aus Liebe zu meiner Tochter
Wollten die Mütter ihr Ziel erreichen, mußten sie einig sein und ihre Kräfte konzentrieren.
Während sich die Aktionen der Patinnen herumsprachen, bekamen sie Zulauf von Dutzenden von Müttern, deren Kinder in Algerien gestrandet waren. Für die Mütter war die Arbeit in der Gruppe eine Therapie im positivsten Sinn: Sie konnten ihre Energien auf ein sinnvolles Ziel richten, Spannungen abreagieren und sich gegenseitig Halt geben.
Nach dem Fiasko der Schiffsaktion »wollten wir etwas gemeinsam tun, Aktionen starten, die uns sinnvoll schienen«, berichtete Jocelyne Bany, eine andere gewählte Vertreterin. »Da wir nicht die Herausgabe unserer Kinder verlangen konnten, versuchten wir, Verhandlungen aufzunehmen und erfüllbare Forderungen zu stellen.«
»Wir wollten die Regierung kritisieren und ihre Schwäche bloßlegen«, sagte Annie. »Als wir zur Menschenrechtskommission der Vereinten Nationen zogen und mit dem französischen Vertreter sprachen, erklärte er: >Dies ist weder der richtige Zeitpunkt noch der richtige Ort.< Ich konnte das nicht hören.«
Die Mütter forderten zunächst Besuchsrechte und ein Verfahren, nach dem diese Rechte eingeklagt werden konnten. Aber die Mühlen der Regierungsbürokratie sowohl auf französischer wie auf algerischer Seite mahlten entnervend
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langsam. Deshalb trugen die Mütter von Algier ihre Forderungen erneut auf die Straße. Am 17. Juni 1985, fast fünf Jahre nach Amars und Farids Verschleppung nach Ghar-da'ia, reiste der Kern der Gruppe nach Algier. Dort überrumpelten sie eine Sekretärin, drangen in den Komplex der französischen Botschaft in Algier ein, ließen sich mit ihren Rucksäcken auf dem Rasen nieder und weigerten sich, das Gelände zu verlassen. Zuerst versuchten die Botschaftsangestellten, sie zum Gehen zu überreden: »Ist Ihnen bewußt, daß dies eine Botschaft ist? Was wollen Sie wirklich? Hier können Sie nicht bleiben.« Aber die Frauen blieben. Dann versuchte man ihnen Angst einzujagen. Ihnen wurde mitgeteilt, nach Einbruch der Dunkelheit lasse man zur Sicherung des Geländes Wachhunde umherstreifen.
Die Mütter waren unbeeindruckt. »Wir gehen erst«, sagte eine von ihnen, »wenn unser Problem gelöst ist.«
Der französische Botschafter befand sich in einer heiklen Lage. Er wollte die Frauen keineswegs in ihrem lästigen Protest ermutigen. Andererseits konnte er sie nicht im Freien übernachten lassen. Er mußte ihnen Obdach gewähren. Deshalb ordnete er widerwillig an, innerhalb des Botschaftskomplexes ein kleines einstöckiges Gebäude, das früher als Snackbar gedient hatte, für sie zu öffnen.
Die Besetzung hatte begonnen. Die Mütter, die ihre Arbeitsplätze um ihrer gerechten Sache willen verlassen hatten, wußten nicht, wie lange sie bleiben mußten und ob ihr kühner Schritt Früchte tragen würde, aber sie waren entschlossen, alles durchzustehen. Die französische Regierung war wie gelähmt. Wie ungelegen die Besetzung auch kam, jeder Versuch, die Mütter zu vertreiben, wäre zum öffentlichen Skandal geworden. Die Umstände wollten es, daß ausgerechnet zu diesem Zeitpunkt ein gekapertes Flugzeug in Algier gelandet war und die Aufmerksamkeit der internationalen Presse auf sich lenkte. Als die Flugzeugentführung nach 288
wenigen Stunden ein Ende gefunden hatte, wußten die versammelten Reporter nicht mehr, worüber sie berichten sollten - es sei denn über die Botschaftsbesetzung durch die Mütter, die folglich bald zu Medienruhm gelangen sollte.
Die Unterbringung war alles andere als luxuriös. Nachts schliefen die Frauen in dem einzigen großen Raum in Schlafsäcken auf nackten Fliesen. In einem kleinen Nebenraum gab es eine Kochgelegenheit sowie einen Gasofen und einen nachträglich installierten Kühlschrank. Auch ein Waschraum mit einer kalten Dusche war vorhanden.
Die ersten Nächte glichen einer Pyjamaparty. Jede Frau erzählte ihre Geschichte und konnte sich anfangs der gespannten Aufmerksamkeit und Teilnahme aller sicher sein. Später, als die Geschichten sich zu wiederholen begannen, ließ die Aufregung nach; die Frauen merkten, daß sich ihre Schicksale auf bedrückende Weise ähnelten.
Die Tage versanken in grauer Monotonie. Es gab kein Fernsehen und keine Telefonanrufe, und das Radiogerät konnte zeitweilig nur einen Sender empfangen. Annie, Linda und einige andere, darunter auch eine Geistliche, fungierten als Botinnen, die alles Nötige heranschafften, von Fertigsuppen und Tellern bis zu Büchern und Zahnpasta.
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