02 - Aus Liebe zu meiner Tochter
erwartete. Gemeinsam wollten sie dann nach Belgien zurückfliegen.
Der Plan war von Anfang an zum Scheitern verurteilt. Irgend jemand informierte die Algerier über Anne-Maries Absichten. Sie wurde verhaftet, als sie in Annaba aus dem Flugzeug stieg. Der tunesische Taxifahrer wurde, nur wenige Minuten nachdem er die Kinder abgeholt hatte, angehalten. Die Kinder mußten zu ihren Verwandten zurückkehren. Sie konnten lange nicht verstehen, was überhaupt gespielt wurde, und sollten erst sehr viel später die ganze Wahrheit erfahren.
Anne-Marie und der Journalist kamen für eine Nacht ins Gefängnis, dann verlegte man sie in ein Hotel, wo sie sechs Tage lang unter Hausarrest standen. Zwar wurden sie höflich behandelt (»Schlagen Sie diese Frau nicht!«
hatte der belgische Botschafter gebeten), aber sie blieben von der Au-294
ßenwelt abgeschnitten. Anne-Marie fürchtete das Schlimmste: Der unausbleibliche Skandal würde ihre politische Karriere zerstören, sie selbst würde lange in Haft bleiben.
Während des Verhörs fragte sie die algerischen Behörden immer wieder nach den Kindern und verlangte nachdrücklich deren Befreiung und Rücksendung nach Belgien. Die Algerier zeigten sich zu Verhandlungen bereit - vorausgesetzt, der Vater werde aus dem Gefängnis in Brüssel entlassen. Man vereinbarte einen Tauschhandel: Die Anklagen gegen Anne-Marie und den Journalisten wurden fallengelassen, der Vater wurde auf freien Fuß gesetzt, und die ganze Familie kam in Algier zusammen, um dort über eine Versöhnung zu reden.
Die Mutter, die sich über ihre Gefühle gegenüber dem Vater immer noch nicht im klaren war, erklärte sich schließlich bereit, mit ihm nach Belgien zurückzukehren.
Um das Gesicht zu wahren, bestanden die Algerier darauf, daß die Mutter allein nach Belgien zurückflog und der Vater mit den Kindern erst eine Woche später vor laufenden Fernsehkameras folgte.
Anne-Marie freute sich sehr, daß die Kinder heimkehren durften. Auf dem Rückflug nach Belgien dachte sie wehmütig, daß jetzt wohl das Ende ihrer politischen Tätigkeit gekommen sei. Einen Freund, der sie bei der Ankunft in Brüssel begrüßte, fragte sie: »Muß ich gleich ins Gefängnis?«
»Soll das ein Witz sein?« fragte der Freund. »Du bist der Star des Tages.« Und tatsächlich: Anne-Maries Verhaftung hatte in ganz Europa Schlagzeilen gemacht. Sie war in ihrer Abwesenheit zu einer berühmten Frau geworden, und sie galt als das seltene Beispiel einer Politikerin mit Herz. Ihr mutiger Rettungsversuch bedeutete nicht das Ende ihrer Karriere, im Gegenteil, sie wurde wenig später befördert. Kurze Zeit darauf wurde sie zur belgischen Ministerin für Europa 1992 ernannt, also mit jenem Ressort betraut, das sich mit der anstehenden europäischen Einigung befaßt.
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Als ich die heimgeholten Jugendlichen fragte, wie sie Anne-Marie Lizins kühne Aktion beurteilten, antworteten sie, ohne zu zögern: »Gut!«
Nach ihrer Rückkehr nach Frankreich fühlten sich die Mütter von Algier schon bald wieder hingehalten. Die Zeit schien für Frankreich reif zu sein, mit Algerien einen bilateralen Vertrag über die Frage elterlicher Kindesentführungen auszuhandeln. Doch im März 1986 verloren die französischen Sozialisten die Macht an die Neo-Gaullisten, und der politisch günstige Augenblick war verpaßt.
Am ersten Jahrestag der Botschaftsbesetzung besuchten Marie-Anne Pinel und die anderen Mütter eine Gedenkfeier in Paris. Als ein Reporter offene Zweifel daran anmeldete, daß Amar Algerien wirklich verlassen wolle, ließ sie eine telefonische Verbindung zu dem Musikgeschäft herstellen, in dem ihr älterer Sohn arbeitete.
Amar antwortete, ohne zu überlegen: »Wir reisen aus.«
Amar hatte seiner Mutter immer gesagt, Farid und er würden Algerien zusammen verlassen. Als er 19 Jahre alt wurde, kaufte er für seinen Bruder und sich selbst Flugtik-kets nach Algier. In der Hauptstadt angekommen, versuchten sie in die französische Botschaft zu gelangen. Jetzt waren sie an der Reihe, Schutz, Gerechtigkeit und eine Heimat zu suchen. Die Jugendlichen hatten keine Papiere und wurden an der Pforte abgewiesen. Ihre französische Staatsbürgerschaft fand keine Anerkennung; für die Botschaft waren sie Algerier. Hier war kein Platz für sie. Der Schock saß tief! Ähnliches hatten Mahtab und ich erlebt, als uns die schweizerische Botschaft in Teheran das Asyl verweigerte.
In den nächsten zwei Wochen blieben Amar und Farid in der Hauptstadt. Sie
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