02 - Aus Liebe zu meiner Tochter
und Heuchelei. Je länger sie ihren Vater bei seinen täglichen Gebeten beobachteten, desto zynischer wurde ihr Urteil über ihn. Brahim hatte seine Familie zerstört, seine Söhne belogen und sie an einen Ort verschleppt, der ihnen verhaßt war. Wie konnten er oder seine Verwandten von sich behaupten, sie seien gute Moslems? Oder, wie Farid es ausdrückte: »Die Leute sagen Schwarz, tun aber Weiß, oder sie sagen Weiß, tun aber Schwarz.«
Die Haltung der Jungen gegenüber ihrer Umwelt war von der gefühlsmäßigen Distanz zu ihrem Vater geprägt.
Mit der Zeit verloren Amar und Farid die Angst und zugleich die Achtung vor Brahim, wie Mahtab den Respekt vor ihrem Vater an dem Tag verloren hatte, als Moody sagte: »Wir kehren nicht nach Hause zurück.« Das große Idol der Jungen war vom Sockel gestürzt, und sein Sturz war tief. Sie empfanden nur Verachtung und herablassendes Mitleid für diesen Mann, der sich im Recht glaubte, dessen Leben mit ihnen aber auf einer unverzeihlichen Lüge basierte.
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Von Anfang an sabotierte Brahim jeden Kontakt zwischen seinen Söhnen und ihrer Mutter. Auf seine Weisung hin fingen die Angestellten der lokalen Post, mit denen er befreundet oder verwandt war, alle Sendungen in beide Richtungen ab, auch Marie-Annes Geburtstagspäckchen und Weihnachtskarten. Brahim beauftragte sogar seine neue Frau, die Schulbücher der Jungen nach versteckten Fotos der Mutter zu durchsuchen und die Fotos zu zerreißen. Dennoch konnte Brahim Marie-Anne nicht von ihrem Bestreben abbringen, die Jungen nach Frankreich heimzuholen.
Nach meiner Begegnung mit Marie-Anne war ich verblüfft darüber, wie ähnlich unser Schicksal war: wie hilflos wir uns anfangs gefühlt hatten, wie sehr uns das geltende Recht enttäuschte und wie abschätzig wir in der islamischen Welt behandelt wurden. Allerdings gab es auch erhebliche Unterschiede. Ich hatte das Glück gehabt, nach unserer Entführung bei meiner Tochter zu bleiben; dann hatte ich fliehen und, wie sich herausstellte, unsere Umstände in relativ kurzer Zeit ordnen können. Nichts dergleichen war für Marie-Anne möglich. Sie hatte lediglich den Vorteil, daß sie in ihrer Heimat Unterstützung und Ermutigung fand. Man muß ihr hoch anrechnen, und darin war sie mir weit voraus, daß sie früh die Zusammenarbeit mit anderen suchte, statt sich als Einzelkämpferin durchzuschlagen.
Annie Sugier war ein 1,65 Meter großes Energiebündel -ein Mensch, der Dinge durch die bloße Anspannung seines Willens verändern kann. Sie hatte eine sanfte, helle Stimme, aber ihr Selbstvertrauen und ihre Entschlossenheit waren nie zu verkennen.
Von Beruf war Annie Ingenieurin bei der französischen Atomenergiebehörde. Sie hatte im Ausland gelebt und kannte andere Kulturen. Sie engagierte sich leidenschaftlich 283
für den Feminismus, und dadurch hatte sie 1981 Jocelyne Bany kennengelernt. Aus Betroffenheit über die Not dieser Frau, deren Kind fern von der Mutter festgehalten wurde und die alles hilflos mit ansehen mußte, empfahl Annie Jocelyne an die feministische Rechtsanwältin Linda Weil-Curiel weiter. Als die Frauen feststellten, daß Jocelynes Fall nur einer von vielen war, gründeten Annie und Jocelyne die Soli-dargemeinschaft für Mütter entführter Kinder, genannt »Mütter von Algier«. Zu ihrer Unterstützung zogen sie noch drei befreundete Frauen heran: Chantal Hanoteau, eine Wissenschaftspublizistin, Odette Brun, eine pensionierte Ärztin, und Anne-Marie Lizin, eine Abgeordnete des belgischen Parlaments.
Die Frauen verstanden sich weniger als Wortführerinnen denn als »Betreuerinnen« der um ihre Kinder gebrachten Mütter, doch sollte man sie besser Patinnen nennen. Keine von ihnen hatte eigene Kinder, aber alle waren von dem brennenden Wunsch erfüllt, internationale elterliche Kindesentführungen zu verhindern. Zwar waren sie Feministinnen, doch kam ihr Engagement aus einer breiteren Tradition, die dem Grundsatz der Gleichheit und dem Ideal der Menschenrechte verpflichtet ist und auf Voltaire und die Französische Revolution zurückgeht.
Im November 1983, als der algerische Präsident Bendjed-did Chadli zu einem Staatsbesuch in Frankreich weilte, veranstalteten die Patinnen eine Demonstration vor der algerischen Botschaft in Paris, in deren Verlauf die Polizei massiv einschritt. Mehrere Frauen wurden festgenommen und in ein Polizeifahrzeug verfrachtet. Hier lernte Annie Marie-Anne Pinel kennen. Die Demonstration darf als der offizielle Gründungstag der
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