02 - Aus Liebe zu meiner Tochter
Mütter von Algier gelten.
Die Verhaftungen hatten den Willen der Solidargemein-schaft nicht brechen können. Im Gegenteil, die Frauen wollten nun noch entschiedener auftreten. Ihre nächste Aktion 284
sollte ihrem Anliegen eine bisher nicht gekannte Publizität verschaffen: Die Mütter wollten mit einem Liherte getauften Schiff nach Algerien fahren, um dort eine Begegnung mit Behördenvertretern zu erzwingen und ihre Söhne und Töchter wiederzusehen. Das Schiff nach Algier, wie es in den Medien genannt wurde, sollte am 6.
Juli 1984 mit rund 30 Müttern an Bord, darunter einige gebürtige Nordafrika-nerinnen mit Wohnsitz in Frankreich, in See stechen.
Als sich die Mütter in Marseille am Kai versammelten, waren sie voll freudiger Erwartung, aber nicht ohne Sorge. Marie-Anne hatte ihre Söhne alle sechs Monate besucht, doch andere Mütter hatten ihre Kinder schon seit Jahren nicht mehr gesehen. Wenn sie nun in Algerien festgenommen wurden oder die Kinder gar nicht zu Gesicht bekamen? Hatten die Kinder genug zu essen? Weinten sie nachts? Hatten sie sich in ihr neues Leben gefügt, und würde die Mutter sie in diesem Fall nicht ein zweites Mal aus ihrer vertrauten Umgebung reißen?
Würden sie ihre Mutter überhaupt wiedererkennen? Wovon sollte die Familie leben, wenn es wirklich gelang, die Kinder heimzuholen?
Einige Tage vor der geplanten Abreise hatten die französische und die algerische Regierung, die sich der Brisanz der Angelegenheit bewußt waren, den Patinnen offene Verhandlungen angeboten, wenn sie die Protestaktion absagten. Annie schwankte: Was sollte sie tun? Sie befürchtete, daß die Gruppe für eine straffe Organisation zu groß sein könne; vielleicht würde sie auseinanderfallen, wenn die Frauen in Algerien eintrafen und die Verhaftung drohte.
Die Mütter wollten schon an Bord der Liberte gehen, als Annie plötzlich rief: »Nein, wir bleiben hier! Die Aktion Schiff nach Algier ist abgeblasen!« Die Mütter waren bestürzt, respektierten aber Annies Entscheidung und gehorchten ihr.
Kaum waren die Worte über ihre Lippen gekommen, da
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bereute Annie sie schon. »Es war ein Fehler von mir, daß ich 1984 die Schiffsaktion im letzten Augenblick stoppte«, gestand sie später. »Dieser Fehler hat mir keine Ruhe gelassen.« Da waren all die Frauen versammelt gewesen, die ihr Leben geändert und die Hoffnung nicht aufgegeben hatten, und nun war Annie gekommen und hatte sie alle enttäuscht. Statt dessen hatte sie auf die Regierungen gesetzt, welche die zugesagten Verhandlungen jedoch immer weiter hinauszögerten. »Ich hatte einen großen Fehler begangen und mir damit eine enorme Verantwortung aufgeladen«, sagte sie selbst. Künftig würde sie ihre Anstrengungen noch verdoppeln, damit diese Frauen endlich erreichten, was ihnen am wichtigsten war: die Wiederaufnahme der Beziehung zu ihren Kindern.
Für das weitere Vorgehen wurde als erstes beschlossen, einen festen Kern innerhalb der Solidargemeinschaft zu bilden: fünf Repräsentantinnen, auf die man unter allen Umständen zählen konnte. »Nur Frauen, die auch kämpfen konnten, hatten unser Vertrauen«, sagte Annie. Sie mußten von untadeligem Charakter, hundertprozentig loyal, kooperativ und bereit sein, alles für das gemeinsame Ziel zu opfern.
»Natürlich wissen wir, man darf von niemandem Vollkommenheit erwarten«, sagte Linda Weil-Curiel, »aber diese Mütter mußten vollkommen sein, wenn wir Erfolg haben wollten.«
Annie war von vornherein überzeugt, daß Marie-Anne Pinel zu der Fünfergruppe gehören sollte: »Ich mochte Marie-Anne seit unserer ersten Begegnung. Sie war stets pünktlich, tat, was ihr aufgetragen wurde, und redete nicht viel. Sie war genau die Person, nach der ich gesucht hatte.«
Als politisch denkende Menschen im besten Sinne wußten die Patinnen, daß ein Kampf, dessen Ziel die Mühe lohnte, nicht im Handumdrehen zu gewinnen wäre. Ihnen war klar, 286
daß sie Geduld brauchten. In den folgenden sieben Jahren sollten sie große Opfer an Zeit und Geld bringen.
(Recht lange bestritten sie die Unkosten für die Organisation sogar ganz aus der eigenen Tasche.) Die Patinnen erkannten auch, daß einheitliche Gruppenaktionen sowohl aus prinzipiellen Erwägungen wie aus Gründen der Effektivität notwendig waren. Sie handelten in jeder Hinsicht loyal, uneigennützig, einzig um der gemeinsamen Sache, nicht um eines Individuums willen: Annie, die Gruppensprecherin, trat der Diskussion einzelner Fälle entschieden entgegen.
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