02 - Aus Liebe zu meiner Tochter
Marie-Anne erlebte eine glückliche Unterbrechung der Monotonie, als Amar, der wegen einer Sportveranstaltung gerade in Algier war, sich zu einem kurzen Besuch in der Botschaft freimachen konnte.
»Wir werden unseren Posten nicht verlassen«, schrieben die fünf am 21. Juni an Annie. »Die Stimmung ist ausgezeichnet, auch wenn wir hier sechs Monate ausharren müssen. Wir sind auf das Schlimmste gefaßt. Bleib dran! Wir wissen, daß wir auf dich zählen können.«
Nach viermonatiger Besetzung war eine der Mütter am Ende ihrer Kräfte. Helene Montetagaud wollte keinen Tag länger in der Botschaft bleiben. Um das Image der Gruppe 289
zu wahren, verkündeten die anderen, Helene werde sie verlassen, um ihre »Botschafterin« in Paris zu werden.
Helene sprach vor dem französischen Parlament über das Engagement der Mütter und ihr Leben auf dem Gelände der Botschaft in Algier. Von diesem Zeitpunkt an schickte Helene jeden Mittwoch insgesamt 40 weiße Rosen an den französischen Präsidenten, den Premierminister, den Justizminister und die beiden Kammern der Volksvertretung. Anfangs waren die Blumen frisch; später ging Helene zu welken Rosen über, als Symbol für die welkenden Hoffnungen der Mütter.
Dank der ungeheuren publizistischen Resonanz hatte die Besetzung schließlich Folgen. Die eingerostete Regierungsbürokratie setzte sich quietschend in Bewegung. Französische und algerische Regierungsvertreter unterbreiteten ein Angebot: Wenn die Mütter ihren Protest beendeten, wollten beide Regierungen einen Vermittler benennen, der die Besuche vorantreiben und eine »juristische Regelung« ausarbeiten sollte, um das Problem zu lösen und Besuche der Kinder über Weihnachten zu ermöglichen.
Am 24. November, fünf Monate nachdem sie die Botschaft betreten hatten, verließen die verbliebenen vier Mütter das Gelände. Ihr Abenteuer hatte zwar noch keinen glücklichen Abschluß gefunden, aber für alle vier war die spartanische Erfahrung in Algier der Höhepunkt der gemeinsamen politischen Arbeit.
Die Mütter waren des Wartens müde. Die Schulferien rückten näher, aber die Kinder waren immer noch in Algerien und so unerreichbar wie zuvor. Die Regierung Chadli hatte mit Vorbehalt zugestimmt, in den Ferien grenzüberschreitende Besuche zu erlauben, allerdings nur, wenn eine offizielle Zusage von französischer Seite vorliege, daß die Kinder nach Algerien zurückkehren würden.
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Am 25. November 1985 schrieb Marie-Anne Pinel an den französischen Präsidenten Mitterrand:
»Wir sind nach fünfmonatiger friedlicher Besetzung der französischen Botschaft in Algier wieder zurückgekehrt, allerdings ohne unsere Kinder.
Wir stehen nun am Beginn der Weihnachtszeit. Mir ist der Gedanke unerträglich, daß meine Kinder Amar und Fa-rid Houache wieder auf die Liebe ihrer französischen Familie verzichten müssen . . . Wenn Sie mit Präsident Chadli darüber sprächen, könnten Amar und Farid in den Weihnachtsferien vom 20. Dezember bis zum 3. Januar nach Frankreich kommen.
Ich verpflichte mich hiermit, in diesem Fall meine Kinder am Ende der Ferien wieder zurückzuschicken. Auch werde ich ihren Aufenthalt in Frankreich nicht dazu nutzen, vor hiesigen Gerichten das Sorgerecht für sie zu erlangen . . .«
Marie-Annes Eltern, ihr Vorgesetzter im staatlichen See-fahrtsamt und der Bürgermeister von Massy richteten ähnliche Gesuche an Mitterrand. Der Präsident antwortete, er könne ohne offiziellen Vertrag keine Zusage geben. Die Mütter von Algier ließen sich indes nicht entmutigen, sondern wandten sich an ein ganzes Spektrum von Persönlichkeiten aus politischen und kirchlichen Kreisen, angefangen von der Kommunistischen Partei über den Verband der Protestanten bis hin zu Scheich Abbas, und baten sie um schriftliche Bürgschaften. Annie versprach, die Kinder persönlich zum Flugzeug nach Algier zu begleiten, »damit sie ohne Schwierigkeiten den Rückflug antreten können«. Um auch die letzten Vorbehalte zu zerstreuen, verpflichteten sich die Mütter unter Eid, die Kinder am Ende der Ferien zurückzusenden.
Da die algerische Regierung ihre Bedingungen nunmehr erfüllt sah, veranlaßte sie ihrerseits, daß die Abmachung in die Tat umgesetzt wurde. Wenn sich Väter uneinsichtig
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zeigten, erhielten sie Besuch von der Polizei, die auf die betreffenden Kinder zeigte und sie aufforderte mitzukommen.
Zunächst kamen nur wenige Kinder über das Meer, insgesamt sechs, darunter Amar und Farid. Obwohl die französischen
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