02 - Aus Liebe zu meiner Tochter
Verpflichtung seitens der Algerier, Besuche zu fördern, und die Wiederaufnahme von Verhandlungen mit dem Ziel eines bilateralen Vertrages. Nach den vielen früheren Rückschlägen blieben die Mütter allerdings skeptisch. »Man hat die Kinder wie Bauern in einem Schachspiel benutzt«, sagte Marie-Paule Meziani, die zum harten Kern der Teilnehmerinnen am Protestmarsch 301
gehörte. »Alle reden von Rechten, doch niemand spricht von den Leiden der Kinder.«
Die Verhandlungen in Genf gingen weiter. Wie Annie bemerkte, bestand die Schlüsselfrage darin, »die gerichtliche Zuständigkeit« zu klären: Welches Land war befugt, in einem gegebenen Fall über die Vergabe des Sorgerechts zu bestimmen? Bei der Lösung dieses Problems durften laut Annie nationalstaatliche Erwägungen keine Rolle spielen -etwa der Gedanke, daß Frankreich oder Algerien von vornherein das für Kinder besser geeignete Land sei -, sondern allein das Wohl des Kindes sei entscheidend. Man müsse dem Recht des Kindes auf geordnete Lebensverhältnisse Rechnung tragen und es vor Entführung durch einen Elternteil schützen.
Die Franzosen machten deutlich, daß sie keine kulturelle Überlegenheit für sich in Anspruch nahmen, denn dies war verständlicherweise ein wunder Punkt für die Algerier. Der französische Delegierte bei der UN-Kommission hob hervor: »Die Kinder haben ein Recht auf die Zuwendung ihrer Väter und ihrer Mütter und ihrer Familien väterlicherseits und mütterlicherseits sowie das Recht, aus zwei verschiedenen Kulturen Nutzen zu ziehen.«
Es bestand wieder Grund zur Hoffnung, und die Mütter wagten es nun, sich dieser Hoffnung hinzugeben. »Zwei vom Geist der Menschlichkeit inspirierte Parteien«, sagte Claude Allaer, der neue französische Vermittler,
»können stets zu einer Einigung gelangen.«
Im Juli 1987 kam es zu den zweiten grenzüberschreitenden Besuchen von 26 Kindern, die ohne Zwischenfälle verliefen. Im Dezember reisten 44 weitere Kinder nach Frankreich.
Diese Besuche waren von Freude, aber auch von niederschmetternder Enttäuschung gekennzeichnet. Unter den Besuchern, die über Weihnachten kamen, war auch ein
Kind, das seine Mutter seit zehn Jahren nicht gesehen hatte. Die Begegnung rührte alle, die Zeugen wurden.
Aber viele andere Mütter waren mit der Erwartung, ihre Kinder begrüßen zu können, zum Flughafen Orly gekommen und muß-ten dann feststellen, daß die Väter im letzten Augenblick doch nicht Wort gehalten hatten.
Manche hatten ihre Söhne, aber nicht ihre Töchter reisen lassen, andere keines der Kinder. Zehn Mütter entschlossen sich auf dem Flughafen spontan zu einem Hungerstreik.
Für die anderen verging der Besuch viel zu schnell . . . Dann geschah etwas, woran niemand zu denken gewagt hatte. Eine französische Mutter weigerte sich, ihren siebzehnjährigen Sohn wieder nach Algerien zurückzuschicken. Als Annie davon hörte, war sie empört: »Es sind immer die Unehrlichen, deren Wünsche erfüllt werden.«
Im März 1988 kam es zu einem zweiten Vorfall, der noch demoralisierendere Folgen hatte als der erste. Nach einem eigens für ihre kleine Tochter arrangierten Besuch brach eine weitere Mutter ihr Wort und behielt das Mädchen bei sich. Die anderen Mütter wußten, daß diese Frau das labilste Mitglied der Kerngruppe war und daß ihre Geschichte sich durch besondere Tragik auszeichnete. Der algerische Vater arbeitete in Saudi-Arabien und lebte in Frankreich und hatte die Tochter bei seiner Familie in Algerien untergebracht.
Die beiden gebrochenen Versprechen hatten katastrophale Auswirkungen. Bereits zu Beginn der Verhandlungen hatten die Algerier betont, wie wichtig es ihnen sei, mit integren Partnern zu verhandeln. Angesichts der kulturellen Unterschiede zwischen beiden Ländern und des fehlenden rechtlichen Rahmens war das Ehrenwort der Mütter der einzige Hebel, der die andere Seite zum Handeln veranlassen konnte. Die Algerier glaubten ohnehin, bereits die größeren Zugeständnisse gemacht zu haben. Die Väter hatten 303
die physische Gewalt über die Kinder, wie es in der algerischen Gesellschaft üblich war. Warum sollten die Algerier diese Macht aus der Hand geben, wenn sie sich nicht auf das Ehrenwort der Mütter verlassen konnten?
In der Mehrzahl der Fälle war auf dieses Ehrenwort Ver-laß gewesen. Aber in zwei Fällen wurde es gebrochen, und nun fürchteten die Patinnen, ihre Vertrauenswürdigkeit sei zerstört. Sie fürchteten, die Wortbrüche könnten ihre Bewegung gerade
Weitere Kostenlose Bücher