02 - Aus Liebe zu meiner Tochter
im entscheidenden Augenblick, da sie das Ziel schon vor Augen hatten, diskreditieren.
Das Ziel war ein bilateraler Vertrag, der die Rechte der Kinder garantieren sollte.
Obwohl zutiefst erschüttert, ließen die Patinnen in ihrem Eifer nicht nach. Besonders Annie wollte nicht aufgeben oder auch nur zurückstecken. Vielmehr wollte sie das negative Bild ins Positive wenden. (Anne-Marie Lizin bezeichnete Annie einmal als den intelligentesten Menschen, dem sie je begegnet sei.) Sie mobilisierte den Beistand der Öffentlichkeit, den die Mütter von Algier sich im Laufe der Jahre verschafft hatten, und reiste im April mit Linda nach Algerien, um mit hohen Regierungsvertretern zusammenzutreffen.
Erstens, so machten die Patinnen deutlich, hätten die Bemühungen der Mütter ehrenwerte Motive; die Weltöffentlichkeit erwarte von Algerien, daß es diese Motive honoriere, indem es einem Vertrag zustimme.
Zweitens seien die grenzüberschreitenden Besuche umständlich und auf Dauer unpraktikabel. Im folgenden Jahr würden die Mütter um Besuchserlaubnis für 200 Kinder bitten, im darauffolgenden Jahr für 400 Kinder.
Drittens erinnerten die beiden gebrochenen Versprechen schmerzhaft daran, daß Menschen fehlbar seien; man dürfe von Müttern oder Vätern nicht verlangen, sich ständig zwischen der Stimme des Herzens und dem Wohl der größeren
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Gemeinschaft entscheiden zu müssen. Persönliche Versprechen seien unangemessen. Man brauche vielmehr einen Vertrag, der einklagbar sei und juristische und soziale Legitimität verbürge. Keine der beiden Seiten dürfe zulassen, daß Betroffene, die sich einfach über ihre Versprechen hinwegsetzten, über das Schicksal aller anderen bestimmten.
Die Krise, fand Linda, »half uns tatsächlich sehr. Wir hatten schon immer eine vertragliche Regelung gefordert.
Wir wollten das Problem nicht ohne ein gesetzliches Instrument lösen.«
Die beiden Frauen waren wie stets überzeugend auf getreten. Linda erinnerte sich: »Als wir uns trennten, sagte der Regierungsvertreter: >Wir müssen endlich zu einer Lösung kommen.< Nach unserer Rückkehr nach Frankreich sprachen wir mit einem Berater des Premierministers; er sagte, die Worte des Diplomaten würden durchaus ernstgemeint klingen. >Vielleicht können wir neue Gespräche aufnehMen.«
Die auf einen Vertrag abzielenden Verhandlungen wurden mit neuem Elan angekurbelt. Allerdings gab es einen Verlust zu verschmerzen: Der hochgeachtete französische Vermittler Claude Allaer, der sich persönlich dafür verbürgt hatte, daß die Kinder nach Algerien zurückkehren würden, sah sich zum Rücktritt gezwungen, als die erste Frau wortbrüchig wurde.
Als Gegenbeispiel muß freilich auch Farid Houaches Verhalten in dieser Zeit erwähnt werden. Zum Zeitpunkt der dritten grenzüberschreitenden Besuche war er fast 19 Jahre alt - in Frankreich laut Gesetz ein Erwachsener, in Algerien knapp vor der Volljährigkeit. Wäre er in Frankreich geblieben, hätte ihn niemand zur Rückkehr zwingen können.
Aber Farid tat das genaue Gegenteil; er handelte so, wie es sich Eltern von ihren Kindern wünschen. Er hatte sich die Werte zu eigen gemacht, für die seine Mutter und die 305
Gruppe, in der sie eine so wichtige Rolle gespielt hatte, stets eingetreten waren. Er verstand den Wert und die Bedeutung des Opfers. Wie sein Bruder wollte auch er mithelfen, alle Kinder zu befreien, nicht nur sich selbst.
Den Müttern war klar, daß der Druck aufrechterhalten werden mußte. Claude Allaer war von der Bühne abgetreten, und der Vertrag war nach wie vor Theorie. Es bestand also wenig Hoffnung, daß sie ihre Kinder in den Sommerferien dieses Jahres sehen würden. Um ihrer bangen Unge-wißheit dramatischen Ausdruck zu verleihen, traten sechs Mitglieder am Muttertag auf dem Flughafen Orly in einen Hungerstreik. Der Hungerstreik sollte über einen Monat dauern, und zuletzt war eine der Mütter in einem kritischen Zustand. Ein Zeichen für den wachsenden Einfluß der Bewegung lieferte die Tatsache, daß Präsident Mitterrand den Hungerstreikenden mit dem Hubschrauber einen Besuch abstattete.
Als die Verhandlungen in die entscheidende Phase traten, legten die Patinnen die Verhandlungsführung in die Hände der Ministerin für Einwanderungsfragen, Georgina Du-Foix. Sie war die erste Vertreterin des Staates, die der Sache der Mütter von Algier höchste Priorität eingeräumt und 1985 den Charterflug für den ersten grenzüberschreitenden Besuch organisiert hatte. Wie
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