02 - Der 'Mann in Weiß'
kommentierte Tom, während sich sein Albtraum zurückmeldete, den er schon fast vergessen hatte, und ihn deutlich abkühlte. »Was nimmst du dafür?«
Nancy tupfte kurz auf das linke Augenlid. »Die Originalzutaten. Palygorskit, Copalharz und Indigo. Komm schon, Tom, wir könnten uns irgendwo an den Strand setzen und du erzählst mir alles über den Maya-Kalender und das Ende der Welt!«
Tom lachte laut. »So weit wird's schon nicht kommen. Also gut, Nancy, gehen wir zum Strand. Aber ich warne dich. Es wird schrecklich langweilig.«
Ungewollt meldete sich sein beginnender Verfolgungswahn zurück. Konnte es denn ein Zufall sein, dass ihn hier am Strand von Playa del Carmen ein Mädchen auf den Maya-Kalender ansprach? Hatte sie den Indio darin abgelöst, ihn zu beschatten?
»Das würde ich mir gut überlegen.« Nancy kicherte. »Sobald ich zu gähnen anfange, bin ich weg!«
Kurz darauf saßen sie abseits des Trubels unter Palmen im warmen Sand und beobachteten den Sonnenuntergang. Nancy palaverte zuerst über Xaman-Ha, den »Heiligen Platz am Wasser«, wie die Maya Playa del Carmen genannt hatten. Dann erwies sie sich als extrem neugierig und wollte wissen, wo Tom schon überall gegraben und was er an Schätzen weltweit zu Tage gefördert hätte. Er erzählte ihr, was er für vertretbar hielt.
»Lieferst du immer alle deine Fundstücke ab, Tom? Oder behältst du auch mal welche für dich, so als Souvenir, meine ich.« Nancy stützte sich mit zurückgelehntem Oberkörper auf ihre Arme, die Beine angewinkelt und leicht geöffnet.
Tom malte mit dem Zeigefinger ein kunstvolles Maya-Zeichen in den Sand und sah sie dann direkt an. »Da gab es in der Vergangenheit schon mal das eine oder Fundstück, das einfach zu schade war, um im Keller eines Museums zu verschwinden.« Oder in Flaschen abgefüllt zu werden , dachte er in Erinnerung an seine bislang größte Entdeckung.
Nancy grinste verschwörerisch. »Ja, das sagt mein Vater auch immer. Einige von den Maya-Sachen, die er gefunden hat, stehen bei uns zuhause rum. Du findest also nicht, dass er deswegen ein Verbrecher ist?«
»Wenn er es nicht im großen Stil betreibt ‒ nein, sicher nicht.«
»Wenn du einige von deinen Sachen verkaufen möchtest, könnte ich dich mit meinem Vater bekannt machen. Er zahlt gut!«
»Mal sehen.« Tom war skeptisch; das klang nicht so, als wäre es für Nancys Vater bloß ein Hobby. Aber darüber wollte er nicht urteilen.
Nancy schwenkte zum Maya-Kalender um und ließ sich von Tom einiges darüber erklären. Irgendwann sagte sie, dass sie austreten müsse. Sie verschwand zwischen den Palmen ‒ und kam nicht mehr zurück.
Ich werde sie doch nicht langweilt haben?
Tom zuckte mit den Schultern und ging nach Playa zurück. Er trank noch etwas an der Hotelbar und tauchte dann ins Bett ab.
Am nächsten Morgen machte er sich auf zur Touristeninformation. Als er das Hotel verließ, hatte er erneut das Gefühl, beobachtet zu werden. Aber zwischen den zahlreichen Touristen, die bereits mit ihren Badesachen unter dem Arm zum Strand strömten, bemerkte er wiederum niemand Verdächtigen. Auch Nancy ließ sich nicht blicken.
Mach dich nicht verrückt! , ermahnte er sich. Sie hat mit dem Indio nichts zu tun.
An der nächsten Ecke kamen plötzlich zwei etwa neunjährige Straßenjungen auf ihn zu. Einer zupfte ihn am Ärmel. Dann streckte er ihm einen Zettel hin.
Tom nahm ihn und gab den Jungs je fünf Pesos ‒ etwa vierzig US-Cent. Sie bedankten sich und rannten davon. Tom wollte den Zettel in der Annahme, dass es sich um einen der üblichen Bettelbriefe handelte, in dem die Kinder ihr haarsträubendes, schreckliches Schicksal beschrieben, um Mitleid zu erregen, bereits wegwerfen, faltete ihn dann aber doch auseinander.
»Fahren Sie nach Cozumel und quartieren Sie sich im Hotel Barracuda in San Miguel del Cozumel ein. Dort werden Sie in den nächsten Tagen weitere Informationen erhalten«, las Tom den Text leise murmelnd.
Cozumel! Tom durchfuhr es wie ein Blitz. Die Insel, auf die die Wandkarte in der zerstörten Kammer verwiesen hatte!
Wusste der Verfasser dieser Zeilen davon, oder liefen auf Cozumel alle Fäden zusammen, sodass er zwangsläufig dort landen musste?
***
18. bis 21. Juli 1985, Cozumel
Béjar Gaitan hatte die fünfzigtausend Pesos von Cordova bar in einem kleinen Koffer erhalten. Nun arbeitete er in der Ruine, wann immer es seine Zeit erlaubte, denn ganz wollte er das Fliegen noch nicht aufgeben. Wer wusste schon,
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