02 - Die Gefangene des Wikingers
Mutter gebracht hatten. Rhiannon hatte sein Gesicht gesehen, sein schönes, stolzes Gesicht, das jetzt die Blässe des Todes trug. Sie hatte das getrocknete Blut auf seiner Stirn gesehen, und die tiefe Wunde, mit der die dänische Kriegsaxt seinen Schädel gespalten hatte. Sie hatte geweint, hatte seinen blutigen Kopf gehalten und ihn liebkost als könnte sie ihn damit wieder zum Leben erwecken. Dann hatte ihre Mutter sie schließlich weggezogen, und Rhiannon hatte fast den Glauben an einen Gott im Himmel verloren.
Und jetzt war das mit Egmund, Wilton und Thomas passiert. Und mit so vielen anderen.
Rhiannon warf den Kopf in den Nacken und schrie ihren herzzerreißenden Kummer in die Nacht hinaus. Sie schwor sich, dass ihr niemand mehr genommen werden würde. Niemals mehr würde ihr jemand genommen werden. Lieber würde sie sterben.
***
Alfred, der König von Wessex, hielt auf seinem Weg von der Kapelle zum Haupthaus inne. Er starrte hinauf in den morgendlichen Himmel. Der Regen hatte aufgehört, und es sah so aus, als würden die karmesinroten Streifen, die den Himmel färbten, Blutvergießen vorhersagen. Alfred war ein frommer Mann, er glaubte fest an die eine und einzige katholische Kirche von Jesus Christus, aber an diesem Morgen schien der Himmel eine uralte, heidnische Warnung kundzutun.
Er seufzte. Er war noch nicht imstande, ins Haus zu gehen. Das Gesicht seiner Frau zu sehen, den Kindern zuzuhören. Und zu bemerken, wie die Kinder ihn anblickten und ihr Gelächter verstummte und einem angespannten Schweigen Platz machte.
Er ballte seine Hände. Gott im Himmel, lass in Deiner unendlichen Gnade diese Schlacht zu der werden, mit der die bösartigen Bestien bezwungen werden.
Er konnte sich nicht daran erinnern, wann der Kampf gegen die Dänen sein Leben nicht beeinflußt hatte. Seine frühesten Kindheitserinnerungen bestanden in einer Pilgerreise nach Rom, die von dem vierjährigen Knaben unternommen werden musste, weil sein Vater und seine Brüder auf dem Schlachtfeld unabkömmlich waren. Keiner von ihnen hatte die Gelegenheit gehabt, alt zu werden.
Zwischen der hölzernen Kapelle und dem langen Haupthaus lag ein alter Felsbrocken, der wie ein Sitzplatz geformt war. Alfred ließ sich dort nieder und stellte fest, dass er immer noch die Fäuste geballt hatte.
Zuerst hatte er die Dänen zusammen mit seinem Bruder bekämpft, und als dieser starb, war Alfred gerade einundzwanzig Jahre alt. Ein junger Mann mit einer jungen, schwangeren Frau. Inzwischen war dieses Kind fast fünfzehn Jahre alt, und Alfred war dankbar dafür, dass sein Erstgeborenes ein Mädchen war, und dass sie, wenn sie älter wurde, nicht in diesen endlosen Krieg ziehen und sterben musste. Aber der Tochter war ein Sohn gefolgt, und der würde schon bald alt genug dafür sein.
Er starrte wieder zum Himmel hinauf und fragte sich, welche Botschaft in diesen blutigen Streifen lag. Was war passiert oder was würde passieren? Obwohl Alfred nicht die Vorahnungen der Kelten hatte, wusste er doch, dass sich England manches Mal immer noch am Rande des Heidentums bewegte, und dass das erste Erscheinen der Wikinger in schicksalsträchtigen Omen vorhergesagt worden war. Immer noch streiften die Druiden durch die Wälder, und trotz ihrer Bekehrung zum Christentum, waren die meisten seiner Leute immer noch so abergläubisch wie die heidnischen Dänen. Irgendetwas stand bevor.
Er fing wieder zu beten an. Er betete darum, dass diese Vorzeichen wenigstens den Sieg bedeuteten. Gott hatte ihm bereits viele Siege gewährt. Alfred wusste, dass die Menschen ihn als den größten König seit den Zeiten des legendären König Arthur betrachteten. Er war König, und seine Männer beugten die Knie vor ihm und fochten für seine Ehre. Er wollte mehr. Er wollte Frieden. Er wollte, dass England zu einem Land wurde, in dem man Bildung erlangen konnte. Er wollte, dass seine Kinder lesen und schreiben lernen und bei Lehrern aus der ganzen Welt studieren konnten. Aber um dieses Ziel zu erreichen, brauchte er Frieden. Er war jetzt sechsunddreißig Jahre alt. Kein junger Mann mehr, aber auch kein alter . Er konnte noch viele Jahre leben. Genügend Zeit, um vieles zu tun.
Vor dem Stein fiel Alfred wieder auf die Knie, obwohl er gerade aus der Messe kam. Er nahm eine Handvoll Staub und starrte ihn an. »Gott meiner Väter, lass mich dieses eine Mal die Dänen vernichten! Lass mich sie aus meinem Land vertreiben und sie zwingen, die wahren Wege Eures Lichtes zu
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