02 - Die Gefangene des Wikingers
eine ganze Stadt in Schutt und Asche, und Egmund, Lord Wilton, der tapfere Thomas, alle waren sie tot.
Sie blieb wieder stehen, hielt sich den Magen, versuchte den wühlenden Schmerz zu verdrängen. Sie blickte zu dem trügerischen Himmel auf und betete darum, dass Adela entkommen war. Adela war ihre Tante, die Witwe eines vornehmen Thans aus Wessex, und sie war seit dem Tod ihres Mannes ihre Gefährtin - als Gesellschafterin und Freundin. Rhiannon war sich sicher, dass Adela die Grausamkeit der Normannen nicht überleben würde.
Als sie links von sich in einem Busch ein raschelndes Geräusch hörte, erstarrte sie vor Entsetzen. Ihr Herz raste, und sie fiel hinter einer Eiche auf die Knie. Furcht packte sie, und alles, was ihr vor Augen stand, war sein Gesicht… dreckig und bedeckt mit dem Mehl, das sie ihm entgegen geschleudert hatte, aber trotzdem hart und kalt und furchteinflößend. Sie fühlte die schiere Kraft seiner Berührung und die pulsierende Stärke seiner muskelbepackten Gestalt. »Betet«, hatte ei zu ihr gesagt, »betet darum, dass wir uns nie mehr wiedersehen … «
Ein gequältes Stöhnen entrang sich ihrer Kehle. In diesem Busch steckte dieser Teufel. Ihr stockte der Atem.
Dann stapfte ein unglücklich aussehender Rotschimmel aus dem Busch heraus.
Rhiannon brach in Gelächter aus. Ihr Lachen wurde immer hysterischer, bis es in Schluchzen überging.
So viele waren tot! Die Wikinger hatten ihr alles genommen, und sie konnte nicht einmal zurückkehren und ihren guten Freunden und Gefährten ein christliches Begräbnis zukommen lassen. Die Geier und Wölfe würden sich an ihnen die Wänste vollschlagen.
Der Rotschimmel blickte sie an, als ob sie den Verstand verloren hatte, und sie fragte sich tatsächlich, ob nicht die Dänen vielleicht doch ihren Geist verwirrt hatten. Taumelnd kam sie wieder auf die Beine und stellte fest dass sie das Pferd dringend gebrauchen konnte. Mit diesem Gaul konnte sie Alfred vermutlich bereits am Morgen erreichen.
Sie lockte das Pferd. Es zeigte keinerlei Absicht, Reißaus zu nehmen. Es kam direkt vom Schlachtfeld, und, die Zügel schleiften auf der Erde.
Rhiannon fragte sich, wer wohl auf diesem Pferd geritten und gestorben war. Der Sattel war zerfetzt und zerrissen. Rhiannon biss die Zähne zusammen, löste den Gurt und warf den Sattel in die Büsche. Dann hob sie den Saum ihres Gewandes und sprang auf den Rücken des Pferdes. Die Nacht brach herein, doch das machte ihr nichts aus. Sie würde darum beten müssen, dass der Mond schien, denn sie konnte keine Rast einlegen.
Als das Pferd zufrieden lostrabte, dachte Rhiannon an ihr bisheriges Leben. Als ihre Eltern noch am Leben waren, mussten sie nach London fliehen, denn die Dänen rückten immer näher. Zunächst hatten die Eindringlinge nur aus ein paar Übermütigen in drei Schiffen bestanden, und ihr Vater und Egmund und Wilton hatten sie alle getötet und ihre Boote brennend auf das Meer hinausgeschickt. Doch dann wurde es immer gefährlicher, so dass ihr Vater beschlossen hatte, dass es nicht schlecht wäre, wenn sie die Kunst des Bogenschießens und des Schwertkampfes erlernen würdeIhre große Stärke lag im Bogenschießen. Ihr Vater hatte immer damit geprahlt, dass sie auf hundert Schritt Entfernung ein Nadelöhr treffen konnte, und obwohl ihn seine Männer deswegen ausgelacht hatten, wussten sie alle, dass diese Behauptung nicht weit von der Wahrheit entfernt war. Sie konnte fast jedes Ziel treffen.
Bis auf heute, wo es so dringend notwendig gewesen wäre. Sie fragte sich verbittert, warum gerade heute ihre Pfeile nicht getroffen hatten.
Oder warum der Wikinger sein Messer so geworfen hatte, dass sie davon nicht getötet worden war. sie wusste instinktiv, dass er sie sehr wohl hätte töten können, wenn er gewollt hätte.
Sie seufzte tief auf. Die Nacht brach endgültig herein. Sie wollte nicht mehr an den hellhaarigen Riesen denken, sie wollte nicht mehr zittern, und sie wollte sich weder an seine Hitze noch an seine Kraft erinnern, noch an die Gefahr, die in seinen eisblauen Augen lauerte.
Betet, Mylady… dass wir uns nie mehr wiedersehen…
Eine Eule stieß einen Schrei aus, und Rhiannon fiel vor Schreck fast vom Pferd. Der Mond ging auf. Er würde ihren Weg erhellen, und sie würde keine Pause einlegen müssen
Sie war erschöpft und verzweifelt, und sie kam sich plötzlich ganz schrecklich einsam vor. Ohne es zu wollen, erinnerte sie sich an den Tag, als sie den Körper ihres Vaters zu ihrer
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