02 Die Kinder der Rothschildallee
Lustspieldichtern oder Satirikern einfällt. Das geräumige, bürgerlich möblierte Zimmer, in dem Anna künftig wohnen sollte, war in der Textorstraße in Sachsenhausen. In dieser Straße, südlich des Mains und in unmittelbarer Nähe des Südbahnhofs, hatte einst das anziehende Fräulein Haferkorn gewohnt, Annas fröhliche Mutter und Johann Isidors einziger, nie bedauerter Fehltritt, der seine Erinnerungen immer noch belebte. Kurz nach jener fliederduftenden Maiennacht war der Malermeister Anton Wallerstadt zur liebenswerten Fritzi gezogen. Nun vermietete seine verwitwete Schwiegertochter, die ja seinen Namen trug, der schlechten Zeiten wegen ein Zimmer in ebenjener Textorstraße. Johann Isidor erkannte den Namen Wallerstadt sofort; er fragte auch nach dem Malermeister und erfuhr, dass der seit vier Jahren in einem Altersheim in der Schifferstraße lebte, doch der Posamentier Sternberg war ebenso weise wie verschwiegen. Er erzählte keine Geschichten, die zu nichts führten. Pointen, die den Erzähler bloßstellten, waren ihm zuwider.
Er war nicht abergläubisch, dieser bescheidene Handelsmann, der sich auch an guten Tagen nicht einbildete, er sei Fortuna persönlich bekannt. Dass sein Weg ihn wieder in die Textorstraße geführt hatte, wertete er aber als ein gutes Omen. Der Gedanke sagte ihm zu, dass Anton Wallerstadt aus den Tiefen der Vergangenheit aufgetaucht war. Ohne diesen gutherzigen Mann hätte der empfindsame Ehebrecher Johann Isidor Sternberg nämlich nie rechtzeitig genug von Fritzi Haferkorns plötzlichem Tod erfahren, um ihr Kind vor dem städtischen Waisenhaus zu retten.
Sie verließen das Haus in der Rothschildallee am Montag, dem 9. März. Zwei Kirchenglocken läuteten die achte Morgenstunde ein. Federwolken tanzten am Himmel, schürten Illusionen und sorgten für falsche Zukunftsbilder. Im Vorgarten blühten die buttergelben Krokusse und die lila Stiefmütterchen, deren Urahnen die siebenjährige Victoria einst das Märchen vom Aschenputtel vorgelesen hatte. Betsy saß mit tränenvollen Augen im Wintergarten und beneidete ihre Kakteen, denn die hatten kein Herz, das brechen konnte. Sie flehte zu Gott, er möge das Herz ihres Mannes stark genug für die neue Prüfung machen, die ihm auferlegt wurde. »Es ist genug«, sagte sie.
Josepha stand hinter der Gardine im Salon und hörte sich atmen. Ihre Rechte war, wie in den Tagen der Jugend, wenn sie Unrecht witterte, zur Faust geballt. Ihr Kopf war heiß. Er weigerte sich zu begreifen, weshalb eine Tochter von Bornheim nach Sachsenhausen ziehen musste, um sich selbst und ihren Vater zu schützen. »Sie hat überhaupt nichts gegessen, unsere Anna«, erinnerte sich Josepha, »keinen Happen. Dabei hab’ ich extra die Erdbeermarmelade aufgemacht, die wir beide im letzten Sommer gekocht haben.«
Auf der Straße und in der Tram interessierte sich an diesem Montagmorgen keiner für den alten Mann und die junge Frau, von denen ein jeder einen mittelgroßen Koffer aus abgeschabtem dunkelbraunem Leder hütete. Deutschland feierte seine Unerschrockenheit und Tapferkeit. Vor dem Kölner Dom paradierten die Soldaten, in Düsseldorf marschierte die Artillerie ein. Das Dritte Reich hatte zwei Tage zuvor seinen zweiten großen außenpolitischen Erfolg errungen. Nach der Volksabstimmung zugunsten der Rückgliederung des Saargebiets »Heim ins Reich« im Januar 1935 waren nun Hitlers Kämpfer völkerrechtswidrig in die Rheinlande einmarschiert. Die waren aufgrund des Versailler Vertrags von 1919 und des Locarno-Pakts von 1925 entmilitarisiert worden. Die deutschen Soldaten, von den witzerprobten Männern aus dem Rheinland mit Jubel empfangen, von ihren fröhlichen Frauen mit Blumensträußen begrüßt, begannen umgehend mit dem Bau von Befestigungsanlagen entlang der deutschen Westgrenze.
»Das Ausland«, sagte Erwin zu Clara am Frühstückstisch, »runzelt missbilligend die Stirn. Wir können also guter Hoffnung sein, dass Hitler sich furchtbar erschrickt und die Welt wieder ins Lot kommt.«
In der Tram, mit der sie in die Innenstadt fuhren, sprachen Johann Isidor und Anna nur ein einziges Mal. Der Vater nieste, die Tochter sagte: »Gesundheit«, und drückte ihm ihr Taschentuch in die Hand. Beiden kam der gleiche Gedanke. Sie bewegten, als dies geschah, den Kopf so leicht, wie es Menschen tun, die einander zunicken und dabei nicht auffallen wollen; an der Konstablerwache stiegen sie aus der Straßenbahn. Sie würden nach Sachsenhausen laufen müssen – über
Weitere Kostenlose Bücher