02 Die Kinder der Rothschildallee
Schritten und schweigend hatte er die Friedberger Anlage angesteuert, Anna auf eine Bank gedrückt, die Zeitung auf ihrem Schoß ausgebreitet und befohlen: »Lies das, Madam. Wort für Wort. Am besten zweimal hintereinander, damit es in deinen verdammten Dickschädel reingeht.«
»Ist es das, was du Vater zugedacht hast?«, brüllte er. »Sechs Monate Haft. Wenn er Glück hat, heißt das, denn vielleicht haben sie die Gebühren für Rassenschande erhöht, bis er es ist, der vor Gericht steht. Die deutsche Justiz entwickelt sich ja weiter. Sie macht ständig Fortschritte.«
Anna war in Tränen ausgebrochen und hatte immer wieder »Das wusste ich nicht, dass es so ist« geschluchzt. Ihr robuster Körper hatte mit einem Mal zerbrechlich gewirkt– und zerbrochen. Erwin hatte die Zitternde nur mit Mühe beruhigen können und konnte sich dann nicht mehr entscheiden, ob er einen Sieg errungen oder eine Niederlage zu beklagen hatte. Auf alle Fälle machte er sich Vorwürfe, dass er seine geliebte Halbschwester für unbelehrbar, dumm und leichtsinnig gehalten hatte; er umschlang sie so fest, dass er ihren Atem riechen und ihr Herz schlagen hörte. Er wischte ihr die Tränen vom Gesicht, als wäre sie ein verzweifeltes Kind und er kein Jude, dem es untersagt war, auf einer öffentlichen Bank zu sitzen und eine nichtjüdische Frau in seinen Armen zu halten.
»Warum hast du so schöne Augen?«, fragte er.
»Damit ich dich besser sehen kann«, antwortete sie.
»Was sind wir doch für Glückskinder. Wir glauben noch an Märchen.«
Am Abendbrottisch verwechselte Anna das Salzfass mit dem Pfefferstreuer und ließ den silbernen Korb fallen, als sie nach einer Scheibe Brot griff. Sie hielt den Kopf gesenkt, hatte rote Flecken auf der Stirn und Tränen in den Augen. »Ich hab’s kapiert«, stammelte sie, »und ich werde mich mein Leben lang schämen, dass es so lange gedauert hat, bis ich so weit war. Aber ich war immer langsamer als die anderen. Das wisst ihr ja alle.«
»Ich verbiete dir das Schämen«, sagte Betsy. »Schämen werden sich eines Tages die Leute, die alles zerstören, was je gut an Deutschland war und wofür wir gelebt haben. Nur bis es so weit ist, dass sich die Verbrecher schämen, müssen die Klugen nachgeben.«
»Damit die Dummen endlich von der Welt Besitz ergreifen können«, erklärte Johann Isidor; er bohrte sein Messer in die Luft. »Das habe ich mir immer schon gedacht, wenn wir uns als Kinder stritten und meine Mutter gesagt hat, ›der Klügere gibt nach‹.«
Sein Körper war fünfundsiebzig Jahre alt, doch sein Kopf ließ sich nicht vom Kalender delegieren, und dieser Kopf erinnerte ihn Tag für Tag daran, dass Erfahrung, Weitsicht und Vorsicht die Waffen sind, die dem Alter auch dann noch bleiben, wenn die Beine straucheln. Am 1. April 1917 hatte Johann Isidor spontan begriffen, dass sein Gewissen ihm befahl, seine mutterlose achtjährige Tochter in seine Familie zu holen. Neunzehn Jahre danach erkannte er, dass es Zeit war, sich von seiner Anna zu trennen – zumindest räumlich.
»Heute beugen wir uns der Klugheit«, beschrieb Johann Isidor die Lage. »Wer weiß, ob es morgen nicht schon die Gewalt ist, die über uns bestimmt.«
Er brauchte zehn Tage, bis er eine Bleibe gefunden hatte, in der Anna eines Tages sicherer vor Verdächtigungen und Unterstellungen sein würde als in der Rothschildallee 9, denn dort wohnte Theo Berghammer, Claudettes gefürchteter Vater. Ottos bester Freund war der gewesen, vor dem Krieg ein überzeugter Sozialdemokrat mit einem roten Halstuch, einem rebellischen Kopf und einer berührenden Güte. Den Schwachen und Wehrlosen hatte Ritter Theo beigestanden. Nun war er ein Nazi im Ledermantel und sah aus wie ein Mann von der Gestapo. Bei den Sternbergs schürte er bereits Ängste, wenn er im Hof den Hausbriefkasten aufschloss. Theo Berghammer wusste zwar nicht, wer Annas Vater war, aber dass sie nicht in die Familie geboren wurde, in der sie lebte, das wusste er wohl. Die Sternbergs mochten sich nicht ausmalen, was dem furchterregenden Herrn Berghammer noch einfallen könnte, um seinen jüdischen Hausbesitzer zu treffen. Momentan beließ er es bei ständig anwachsenden Mietschulden, die Johann Isidor seit zwei Jahren nicht mehr anzumahnen wagte, und einem hämischen Gruß auf der Treppe.
Der Zufall, der bei der Wohnungssuche für Anna Regie führte, war ein Kobold der ganz spitzbübischen Gattung: Er setzte eine Pointe, wie sie sonst nur phantasiearmen
Weitere Kostenlose Bücher