02 Die Kinder der Rothschildallee
Reichskanzler Adolf Hitler sagte der »hasserfüllten Macht des jüdischen Feindes den Kampf« an.
Zwei Tage später eröffnete er die Olympischen Winterspiele in Garmisch-Partenkirchen. Beschworen wurden Zucht, Ehre, Kameradschaft und Ritterlichkeit. Besonderer Gesprächsstoff in Bayern war noch immer die Zwangsvereinigung der beiden Nachbargemeinden Garmisch und Partenkirchen. Außergewöhnlich gut informierte Beobachter wussten zu berichten, dass man den widerspenstigen Gemeinderäten, die sich der erzwungenen Ehe zu widersetzen versucht hatten, mit Einweisung in das nahe gelegene Konzentrationslager Dachau gedroht hatte.
Der politische Himmel über dem Gastland, das bereits 1931 und folglich noch während der demokratischen Weimarer Republik zum Austragungsort der Olympischen Spiele bestimmt worden war, war also keineswegs ungetrübt. Die Kunde vom Konzentrationslager Dachau sowie die Berichte von der Diskriminierung und Ausgrenzung der deutschen Juden hatten das Ausland erreicht. Bis New York und Washington hatte sich herumgesprochen, welche Bedrohung sich hinter dem zynischen deutschen Wort »Schutzhaft« verbarg.
Sowohl der aufgeklärte Teil der amerikanischen Öffentlichkeit als auch das Internationale Olympische Komitee hatten auf einen Boykott der Spiele gedrängt. Die Nationalsozialisten waren ausnahmsweise erschrocken und reagierten prompt, indes mit der üblichen menschenverachtenden Scheinheiligkeit. Von offizieller Stelle wurde verfügt, dass für die Dauer der sportlichen Festesfreude in Deutschland die Verfolgung und Verleumdung der Juden nicht mehr unter den Augen der Öffentlichkeit zu betreiben sei. Die ausländischen Gäste seien freundlich, rücksichtsvoll und herzlich zu behandeln. Schlagartig verwandelte sich das Dritte Reich zurück in einen friedliebenden, von Menschlichkeit geprägten Staat – zumindest der sichtbare Teil.
Die Schilder, die Juden das Sitzen auf öffentlichen Bänken untersagten, und die Plakate mit dem Text »Juden werden hier nicht bedient«, die an den Schaufensterscheiben zahlreicher Geschäfte klebten, wurden für die Dauer der völkerverbindenden Spiele entfernt. Restaurants und Cafés gaben sich so weltoffen, wie sie vor den Nazis gewesen waren – kein Wort mehr davon, dass Juden als Gäste unerwünscht waren. Johann Isidor trank seinen Mittagskaffee zwei Mal außer Haus; einmal wiegte ihn zwei Herzschläge lang ein feuriger Geiger in den alten deutsch-jüdischen Traum, im Land der Dichter und Denker könne nichts wirklich Böses geschehen.
Betsy ließ ihre Röcke kürzen, interessierte sich für die Programme der Kinos und schnitt sämtliche Bilder des amerikanischen Kinderstars Shirley Temple aus den Zeitungen und Illustrierten aus. In der Straßenbahn, die von der Bockenheimer Landstraße zur Berger Straße fuhr, bekamen Victoria und Fritz Feuereisen mit, dass sich zwei ältere, sehr soigniert wirkende Herren in der in Berlin üblichen Lautstärke über Kurt Tucholsky unterhielten. Deutschlands berühmtester Satiriker, dem die Nazis seine Leser, die Heimat, die Hoffnung und den Lebensmut genommen hatten, hatte Ende 1935 in seinem schwedischen Exil Selbstmord begangen.
»Vielleicht kommt es wieder, dass man auf der Straße reden kann, ohne sich umzudrehen, wer hinter einem läuft«, sagte Fritz später zu seinem Schwager.
»Wahrscheinlich«, malte sich Erwin aus, »schreibt in diesem Moment ein gut informierter amerikanischer Jude an seine Mutter in Miami: ›Es ist alles eine dumme Lüge, was man sich bei uns über die Deutschen erzählt, Mamme. Sie sind ganz reizend, sehr zuvorkommend, kultiviert und rührend altmodisch. Ihr Sauerkraut ist wirklich ein Erlebnis.‹«
»So wird’s sein«, pflichtete ihm Clara bei. »Auch ich fühl mich ja wie ein Mensch. Wer weiß, was noch kommt. Vielleicht erklärt mich unser Führer zur Nichtjüdin. Darf ich dann Heil Hitler sagen?«
Die Geschwister kamen aus dem Kino. Sie hatten Willi Forsts »Mazurka« mit Pola Negri in der Hauptrolle einer alternden Kabarettkünstlerin gesehen. Pola Negri hatte zehn Jahre in den Vereinigten Staaten gelebt. Bei ihrer Rückkehr war sie als Jüdin stark angefeindet worden, hatte Hitler persönlich um Hilfe ersucht und wurde von ihm tatsächlich zur Nichtjüdin erklärt. Wer von der abstrusen Geschichte erfuhr, wertete sie als den Silberstreifen, von dem man »immer gewusst hatte, dass er eines Tages kommen« würde.
Es ließen sich nicht nur die Gäste aus dem Ausland blenden. Auch
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