02 Die Kinder der Rothschildallee
zweiundzwanzigjährige Reisende schrieb ungewöhnlich lange, detaillierte und sehr reizvolle Briefe, allerdings auch sehr heimwehkranke. Ihre Sehnsucht nach der Familie rührte ihre Eltern immens – viel mehr, als die leibhaftige Alice es je getan hatte. Umso unerklärlicher war ihnen daher, dass noch nicht einmal eine Postkarte aus Südafrika angekommen war, um ihre Ankunft zu vermelden, geschweige denn, wie am letzten Abend im Elternhaus verabredet, ein Telegramm. Laut Fahrplan hätte die »Adolph Woermann«, die die Tour »Rund-um-Afrika« der »Deutschen Ost-Afrika-Linie« machte und in vielen Häfen und dort manchmal drei Tage lang anlegte, längst in Südafrika eingelaufen sein müssen.
»Sie hat uns vergessen«, orakelte Josepha. »Das kommt oft vor, wenn man einer jungen Frau zu plötzlich die Fesseln abnimmt. Bei meiner Cousine war es ganz genauso. Die hat sich prompt in einen Gigolo verknallt.«
»Alice ist unsere Tochter«, sagte Betsy indigniert, »nicht unsere Sklavin. Und sie hat es nicht nötig, sich in einen Gigolo zu vergucken.«
Sternbergs diskutierten Tag für Tag und mit einer Phantasie, die ihren Nerven absolut nicht bekömmlich war, ob der ihnen durch die Umstände leider unbekannt gebliebene Bräutigam Leon Zuckermann es wohl so ernst mit seinem Eheversprechen meinte, wie Alice angenommen hatte. Gebräuchlich bei den Gesprächen wurden die Formulierungen »der Kerl« und »unser kleines Mädchen«. Dann stöhnte Erwin: »Courths-Mahler«, und Clara fasste sich an den Kopf.
Eine Woche zuvor hatte Betsy nach einer Nacht mit Albträumen und Magenschmerzen schließlich Claras Drängen nachgegeben und Kontakt mit Leons Mutter aufgenommen. Die alte Frau Zuckermann hatte bereits zwei Söhne ins Exil verabschiedet. Nach menschlichem Ermessen würde sie die nicht wiedersehen. Der dritte Sohn war dabei, nach Antwerpen zu emigrieren, die siebzehnjährige Tochter hoffte auf die Einreiseerlaubnis nach Palästina. »Alles gute Kinder und so klug«, murmelte Frau Zuckermann. Aus ihrer Rocktasche holte sie ein vergilbtes Foto und hielt es ihrem Gast hin. Als ihr allerdings aufging, dass Betsy, die ihrer Meinung nach lächerlich aufwendig gekleidet war, Zweifel an der Redlichkeit ihres Leon hegte, wurde sie ungehalten. Und sie zeigte es.
Der fromme Leon mit den guten Zeugnissen und der Ehrfurcht vor der Tradition der Väter war nicht nur der Lieblingssohn der Eheleute Zuckermann. Laut dem mit Leidenschaft vorgetragenen Bericht seiner stolzen Mutter hatte es der tüchtige junge Mann dank seiner Tatkraft und seines Mutes in Südafrika schon zu Erfolgen gebracht, die »anderen Leuten nicht mal im Schlaf vergönnt sind. Wenn einer ein anständiges Mädchen zur Frau verdient hat, dann er«, betonte Frau Zuckermann. Sie zog ein braunes Taschentuch hinter dem Sofakissen hervor, rieb Augen und Stirn trocken und starrte ihre Besucherin an, als hätte die ihr einen unanständigen Witz zugemutet.
Trotz der kleinen Missstimmung zum Auftakt ihrer Bekanntschaft kam Betsy mit einem von Frau Zuckermann gebackenen Zimtkuchen für den Sabbat und einem großen Weckglas selbst geriebenem und mit roter Bete angereichertem Meerrettich nach Hause – beklagenswerterweise auch mit einer recht deprimierenden Geschichte von einem gewissen Herrn Katschinsky aus dem Sandweg. Der hatte sein Fräulein Braut von Frankfurt nach Montevideo kommen lassen und die Unglückliche dann, wie deren mitreisende Cousine postwendend nach Hause meldete, nicht einmal mehr vom Schiff abgeholt. Derzeit war er mit einer Frau verlobt, die Frau Zuckermann mit einem Anflug von Neid als »eine reiche Einheimische« bezeichnete.
»Und seiner Mutter«, erzählte sie ihrer konsternierten Besucherin, »hat der Jossel sogar ein Foto von dieser Frau aus Uruguay geschickt. Eine Schwarzhaarige mit vorstehenden Zähnen. Ich hab’s selbst gesehen. Und die Jüngste ist sie auch nicht. Aber wie sagt mein Mann immer: Geld macht sogar eine Frau mit Buckel schön.«
»Es muss uns ja nicht jeder Schlag treffen, der möglich ist«, sagte Johann Isidor, als er vom treulosen Jossel erfuhr. »Nicht alle Männer schwärmen für vorstehende Zähne.«
Er sorgte sich nicht allein um Alice im fernen Afrika, und er grämte sich nicht nur unaufhörlich, weil er von dem jungen Mann, um dessentwillen sie dahin gereist war, nichts wusste, was ein verantwortungsvoller Vater zu wissen hatte. Auch der Gedanke an Anna und Hans Dietz, den herzenswarmen Drucker, den er so rasch schätzen
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