02 Die Kinder der Rothschildallee
gelernt hatte, nahm ihm die Ruhe. Seit über einem halben Jahr wollten die beiden heiraten. Von der Familie wussten das bisher allerdings nur Betsy und er, denn Anna und Hans hatten begründete Ängste, des Aufgebots wegen beim Standesamt vorzusprechen. Nach den nationalsozialistischen Rassegesetzen hätte Anna als »Mischling ersten Grades« gegolten, wenn ihr Vater bekannt geworden wäre. Ohne die entsprechend verlangten Angaben über ihren Vater und die Vaterfamilie hatte sie jedoch keine Aussicht auf einen »Ariernachweis«. Der wiederum wurde zur Ausstellung des Ehetauglichkeitsscheins benötigt.
»Frankfurt«, seufzte Johann Isidor im Schutz des ehelichen Schlafzimmers, »ist nicht der rechte Ort, um auf ein Wunder zu hoffen. Oder auf Gottes Beistand. Hier wird sich der Wind nicht mehr drehen.«
Seit einem Jahr war Frankfurt wieder Garnisonsstadt. Bei jeder Gelegenheit präsentierte sich die Wehrmacht in der Öffentlichkeit. »Heldengedenktag« und »Führers Geburtstag« wurden mit begeistertem patriotischem Einsatz gefeiert; das ließ durchaus den Schluss zu, dass auch die Ämter ihre Treuepflicht zum System in höchsten Ehren hielten. »Wie soll unsere Anna mit dem ganzen Schlamassel fertig werden?«, fragte Johann Isidor bedrückt.
»Vielleicht hätte Hans mehr Glück, wenn er aufs Amt gehen würde.«
»Wer in einem deutschen Konzentrationslager gesessen hat, glaubt nicht mehr so recht an das Glück, Betsy. Im Vergleich mit einem Staatsdiener unseres Führers dürfte der Umgang mit einem Standesbeamten in Südafrika jedoch das reinste Kinderspiel sein. Trotzdem bekommen wir nicht zu erfahren, ob Alice überhaupt einen braucht.«
»Du warst doch sonst immer so geduldig. Selbst in schlechten Zeiten.«
»Geduld nutzt sich bei ständigem Gebrauch ab, meine Gute. Wie Geld und Seife. Und Optimismus.«
Das Gespräch fand am 3. Mai statt. Deutschland war in bester Stimmung. In fünfhundertneunundvierzig Gemeinden traten Abteilungen der Hitlerjugend zu Grundsteinlegungen von HJ-Heimen an. Die Frankfurter schauten aber nicht zu Boden, sie starrten zum Himmel. In der Stadt startete das deutsche Luftschiff LZ 129 »Hindenburg« zur ersten Transatlantikfahrt dieses Jahres nach Nordamerika. Drei Tage später explodierte Deutschlands Stolz bei dem Versuch, ein Gewitter zu umfliegen. Die »Hindenburg« stand unmittelbar vor der Landung auf dem Luftschiffhafen von Lakehurst in den Vereinigten Staaten, die Landungsseile waren bereits heruntergelassen worden. Den fünfunddreißig Menschen, die bei der Katastrophe umkamen, widmete Josepha einen ungewöhnlich sprachgewaltigen Nachruf. »Ausgerechnet am Himmelfahrtstag«, sinnierte sie in ihre Kaffeetasse, »ließ der Herr im Himmel sie zum Himmel fahren.«
»Das ist eine Sünde, so etwas zu sagen«, protestierte Betsy, »es waren Menschen.«
»Bei uns hat der im Himmel vergessen, dass wir Menschen sind«, hielt ihr ihre Köchin vor.
Josepha hatte zu wenig Gottvertrauen. Am folgenden Samstag machte sie sich daran, die trübe Wochenendstimmung zu erhellen. Im Vorgarten schnitt sie den ersten Flieder. Bald lag auf dem frühlingsgrünen Rasen ein duftender lila Strauß; jede Dolde erzählte schamlose Lügen und machte selbst den Bekümmerten und Beladenen weis, das Leben sei eine endlose Kette von heiteren Maientagen und Mozartmelodien. Zwei kleine Mädchen standen am Zaun und sangen mit piepsenden Stimmen »Komm, lieber Mai und mache die Bäume wieder grün«. Josepha dachte an die Zeit, als die sechsjährige Victoria mit ihrer Freundin Marie am Gartentor gestanden und genau dieses Lied gesungen hatte. Sie rieb ihre Augen mit einem Zipfel der Kittelschürze trocken und hätte gern die Mädels verjagt, doch sie stampfte nur müde mit dem rechten Fuß auf den Rand des Rosenrondells. Eine Köchin, die bei Juden in Stellung war, verjagte nicht ungestraft deutsche Kinder.
Vom Haus Nummer 11 winkte der Briefträger. Er war ein freundlicher Mann, der die Post seit zwanzig Jahren brachte und Weihnachten von den Sternbergs außer den zehn Mark, die in der Nachbarschaft üblich waren, stets eine Flasche Korn geschenkt bekam und für seine alte Mutter Stoff aus der Posamenterie für einen Flanellunterrock. Selbst in Uniform sagte der Eigensinnige immer noch leise »Guten Tag« und nicht laut »Heil Hitler«, wenn er Menschen grüßte, die das zu würdigen wussten. An diesem Samstag der Samstage aber rief er: »Endlich!«, als er Josepha sah. Während er auf das Haus Nummer 9
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