02 Die Kinder der Rothschildallee
man begriffen hat, dass man für sich selbst lernt. Wenn ich das bloß auf der Schule den Lehrern geglaubt hätte, als sie es noch gut mit mir meinten! Leon kann schon so viel Englisch, dass er manchmal sogar nach einem deutschen Wort sucht. Gestern nannte er Weintrauben ›grapes‹, und statt Kaffee sagt er jetzt ›coffee‹. Er sagt, man nennt das ›Refugeedeutsch‹. ›Refugees‹ sind Flüchtlinge. Wahrscheinlich wird es mir sehr bald auch so gehen. Seit einer Woche lebe ich nämlich auf einer Farm in der Nähe von Pretoria (einer wunderschönen Stadt mit Bäumen und Blumen, wie sie zu Hause noch nicht einmal im Palmengarten wachsen) und höre kein Wort mehr in meiner Muttersprache. Ich bin bei einer englischen Familie mit vier Kindern gelandet, von denen eins wilder ist als das andere. Nur das Baby (drei Monate) nicht. Ich bin das Kindermädchen und hab die Stellung nur bekommen, weil Howard meinen Chefs erzählt hat, dass ich vier Geschwister und drei kleine Nichten habe, die ich alle versorgen musste. Leon meint, Gott verzeiht Notlügen.
Ich muss keine körperliche Arbeit leisten. Ihr könnt Euch nicht vorstellen, wie viel Hauspersonal und Feldarbeiter es auf so einer Farm gibt (alle schwarz und so freundlich zu mir, dass ich jeden Tag aufs Neue bewegt bin). Übrigens: Die Familie Green zündet am Freitagabend Kerzen an und kocht am Samstag nicht. Deswegen haben sie ja auch für mich gebürgt. Sonst hätte ich nicht nach Südafrika kommen können. Die Greens haben auch dafür gesorgt, dass Leon eine Stellung in Pretoria gefunden hat. Er arbeitet jetzt bei der Eisenbahn (Büro), verdient recht gut für einen Refugee, ist sehr zufrieden und sagt manchmal, er kann sich gar nicht vorstellen, dass es junge Männer gibt, die davon träumen, Kinderarzt zu werden. Wir beide hoffen, dass wir bald heiraten und zusammenwohnen können, doch dazu müssen wir erst ein bisschen Geld ansparen. Ich gebe nichts von meinem Gehalt aus. Wie auch? Ich komme ja nicht von der Farm weg. Zum Glück darf mich Leon mittwochs und am Sonntag besuchen. Dann hungert er mit mir.
Das große Glück bei den guten Greens hat nämlich einen kleinen Haken. Sie essen so kleine Portionen, wie man sie bei uns noch nicht einmal einem siebenjährigen Kind zumuten würde, und sie kommen überhaupt nicht auf die Idee, dass ich bei ihnen nie satt werde – gestern gab es zum Abendessen zwei dünne Weißbrotscheiben, zwischen denen dünne rohe Gurkenscheiben steckten (das Ganze wird hier Sandwich genannt), und eine Suppe aus Fleischwürfeln. Dabei wachsen im Garten die herrlichsten Tomaten, wunderbare grüne Bohnen und riesige Karotten. Weil ich nicht wage, um Nachschlag zu bitten, und ich ja auch nicht genug Englisch kann, um das zu tun, komme ich mir ständig wie Oliver Twist im Waisenhaus vor. Zum Glück hat die Köchin einen Narren an mir gefressen. Sie wiegt mindestens zwei Zentner und hat eine geheime Schatzkammer, aus der sie mir, wenn die Chefin es nicht sieht, sättigende Käsehappen, dicke Maisfladen (bekommt sonst nur das Personal) und tropische Früchte zusteckt.
Leider ist das Haustier der Kinder ein zahmer Mungo mit reißscharfen Zähnen (Leon hat die Übersetzung für mich herausgefunden), vor dem ich eine Riesenangst habe. Derzeit habe ich auch noch Angst vor den Kindern (drei bis zwölf Jahre). Sie hocken meistens auf Bäumen oder galoppieren auf Pferden herum, und ich habe noch nicht herausbekommen, weshalb sie nicht in die Schule gehen. Jetzt weiß ich, was der Spruch bedeutet, den Fräulein Kranichstein in mein Poesiealbum schrieb, als ich zwölf Jahre alt war – wer vor fremden Leuten weint, der verschwendet seine Tränen. Wie prophetisch! Ich darf mich aber nicht beklagen, es geht mir wirklich gut, und das sage ich Gott jeden Abend. Ja, ich bete. Wofür, könnt Ihr Euch denken. Und wem ich meine neue Frömmigkeit zu verdanken habe, auch. Leon war sein ganzes Leben lang fromm. Nicht nur in der Not.
Leider friere ich oft. In Südafrika fängt nämlich der Winter an, und ich trauere jedem Pullover nach, den ich Claudette geschenkt habe, weil ich dachte, in Afrika würde man das ganze Jahr über schwitzen. Die Chefin hat mir eine Jacke von ihrer zwölfjährigen Tochter gegeben (zu klein) und die Köchin einen Pullover von sich (sehr viel zu groß). Meine ganze Garderobe und sämtliche Gurkenbrote, die ich zu erwarten habe, würde ich jedoch gegen einen Brief aus Frankfurt eintauschen. Heimweh ist tausendmal schlimmer als Hunger.
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