02 Die Kinder der Rothschildallee
zulief, grinste der Grauhaarige so verschwörerisch wie ein Schulbub, der den Lehrerstuhl mit nasser Kreide beschmiert hat.
Er war ein Briefträger mit Herz und Seele, vor allem mit Erfahrung und Menschenkenntnis. Er wusste, was es bedeutete, wenn ständig ein Familienmitglied zur Zeit der Postzustellung auf der Straße herumlungerte und auf sein Kommen lauerte. Es war genau zehn Minuten nach zehn, als die Köchin Josepha Krause, die von Gott nichts mehr hatte wissen wollen und sonntags Liebesromane in Groschenheften las, statt zur Messe zu gehen, die so lange ersehnte Erlösung vom Übel der Ungewissheit in ihre dunkelblaue Kittelschürze steckte. Sie bekreuzigte sich.
Der Brief steckte in einem Kuvert mit blau-weiß-roter Umrandung; er war mit vier farbenfrohen Briefmarken frankiert und in Pretoria abgestempelt worden. »Wenn das nicht in Südafrika liegt, dann spring ich in meinen eigenen Suppentopf«, flüsterte Josepha. Ihr Herz raste, und in ihren Schläfen hämmerte das Blut. Es drängte sie so zur Eile, dass sie den abgeschnittenen Flieder samt dem guten Messer im Vorgarten liegen ließ. Als sie die Treppen nach oben hetzte, wuchsen ihren siebenundsechzigjährigen Füßen die Flügel des griechischen Götterboten Hermes.
»Der Silberstreifen«, stammelte Betsy, »ich hab so fest geglaubt, dass er kommt.«
Weinend umarmte sie Josepha. Sie holte ihren Mann von seiner Zeitung weg und Clara, Claudette und Erwin vom vierten Stock herunter. Stumm saßen die sechs um den runden Tisch im Salon und starrten den Briefumschlag mit Alicens Schrift an. Dann und wann versuchten sie, einander zuzulächeln, doch sie waren das Lächeln nicht mehr gewohnt. Ihre Gesichter blieben starr.
»Kannst sagen, was du willst«, sagte Erwin, »der Führer hat uns zu verdammt sympathischen Leuten gemacht, so bescheiden und ganz ohne Bedürfnisse.« Es war indes er, der nach ein paar Minuten das entdeckte, was er »das Härchen in der Suppe« nannte. Den Übrigen war in der ersten Euphorie entgangen, dass der Briefumschlag geöffnet und anschließend nicht mit deutscher Gründlichkeit wieder zugemacht worden war. »Wahrscheinlich wäre es das Ende von Deutschland, wenn der Staat ausgerechnet bei den Juden das Briefgeheimnis wahrt«, sagte er. »Ich höre immer wieder, dass Briefe aus dem Ausland geöffnet werden, aber merkwürdigerweise habe ich gerade das nie geglaubt.«
»Wir wollen danken, dass es etwas zu öffnen gegeben hat«, beschied ihm seine Mutter, »und jetzt liest uns Claudette den Brief vor.«
In ihrer Briefanrede erwähnte Alice jedes Familienmitglied – von ihrem Vater bis zum kleinen Salo, natürlich auch Josepha und zum Schluss sogar Snipper, obwohl sie und Claudettes Hund nie miteinander Freundschaft geschlossen hatten. »Ich weiß gar nicht, wie ich alles, was geschehen ist, in einen Brief hineinbekommen soll«, schrieb Alice. »Seitdem ich meinen Fuß auf Südafrikas Boden gesetzt habe, ist so viel geschehen, wie in meinem ganzen Leben noch nicht. Manchmal glaube ich, dass mein Herz zerspringt. Oder mein Kopf. Oder dass ich träume und mich eines Tages die missgünstige Fee aus ›Dornröschen‹ in die Wirklichkeit zurückholen wird.
Das Schiff legte in Durban an, und ich war so aufgeregt, dass mir der Schiffsarzt Tropfen zur Beruhigung geben musste. Ihr könnt Euch nämlich nicht vorstellen, was ich auf der Reise alles von ungetreuen Männern und sitzen gelassenen Frauen gehört habe. Doch mein lieber guter Leon stand am Kai, ganz, wie er mir in jedem Brief versprochen hatte. Nur habe ich ihn fast nicht erkannt. Ich hatte ihn ja nie ohne Sorgen gesehen, und auf einmal sah er aus, als hätte er in der Lotterie gewonnen. Er hat mindestens zehn Pfund zugenommen, ist braun gebrannt, als hätte er sein Leben lang in Afrikas Sonne gelegen, trägt weder Jacke noch Schlips, sondern Khakihemden in der Farbe von Oliven (die man hier übrigens isst) und einen großen Hut mit breitem Rand. Er hat sich vollkommen verändert. So stell ich mir einen Vogel vor, dem es gelungen ist, seinem Käfig zu entkommen. Aus seinem alten Leben ist nur die Liebe geblieben. Er hat mich vor allen Leuten geküsst, und ich wäre vor Scham fast im Boden versunken, doch keiner hat sich nach uns umgedreht. Leons neuer Freund Howard war mit ihm nach Durban gekommen, um mich vom Schiff abzuholen. Leider spricht Howard nur Englisch, aber ich verstehe ihn schon viel besser als am Anfang.
Es ist erstaunlich, wie schnell man eine Sprache lernt, wenn
Weitere Kostenlose Bücher