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02 Die Kinder der Rothschildallee

02 Die Kinder der Rothschildallee

Titel: 02 Die Kinder der Rothschildallee Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefanie Zweig
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Jahren war sie Vaters eifrige Gehilfin und nahm in seiner Posamenterie den Platz ein, den einst ihre Mutter innegehabt hatte. Der alte Hausmeister ahnte die Wahrheit und kniff die Augen zu, wenn er morgens Vater und Tochter kommen sah. Die Kundschaft, besonders die ältere, die immer wieder klagte, die Bedienung in den modernen großen Geschäften sei so unpersönlich, schwärmte von Annas Liebenswürdigkeit. Für ihren beglückten Vater war es ein ewiges Wunder, dass seine Lieblingstochter nicht wie seine anderen Töchter geraten war.
    Dem alten Jahr blieben noch sieben Minuten und dreißig Sekunden Lebenszeit. Gut gelaunt überlegte der Hausherr, ob er Anna einen von den Pelzkrägen schenken könnte, ohne dass Betsy, Clara und Victoria neidisch wurden. Da donnerte es an der Tür im Salon. Johann Isidor fuhr zusammen wie ein Mann, der ein beflecktes Gewissen hat. Alle schauten ihn an. Josepha fummelte am Tuch von der Sektflasche. Clara schaute ihren Bruder an. Er kratzte sich am Kopf. Johann Isidor merkte gleichzeitig, dass Claudette nicht mehr hinter dem Stuhl ihrer Großmutter stand, dass ihr Armband aus bunten Glassteinen auf dem Boden lag und dass ihm übel wurde. »Wo?«, fragte er, und als ihm keiner antwortete, sagte er leise »Wer?«
    Erwin sprang auf. Er war mit einem Mal wieder geschmeidig und schön wie als Kind. Der Engelsbub von einst tänzelte zur Tür, wurde ein Harlekin mit Kirschmund, ein grinsender Kasper mit einer grasgrünen Papiermütze auf dem Kopf und einer Frankfurter Zunge. »Herein, wenn’s kein Schneider ist«, rief er und verbeugte sich.
    Im Türrahmen stand Victoria in einem weißen Smoking und mit einer breiten roten Schärpe um die Knabenhüften. Die zierliche Langbeinige hatte eine graue Melone auf dem Kopf und Claudette, als Schornsteinfeger verkleidet, an der Hand. In den jubelnden Applaus ihrer Familie sang das liebliche Fräulein Sternberg, das die berühmteste Soubrette Deutschlands zu werden gedachte, den Refrain aus Kollos beliebter Operette »Marietta«. »Warte«, wusste sie, »warte nur ein Weilchen, bald kommt auch das Glück zu dir.«
    »Jetzt du«, flüsterte die schöne Tante; sie schob ihre begabte Nichte, die »Ich hatt einen Kameraden« durch ihre obere Zahnlücke pfeifen konnte, in die Mitte des Salons. Dann wiederholten beide, die Mondäne in Weiß und das steppende Schornsteinfegerkind mit dem kleinen Zylinder und der Leiter aus geschwärzter Pappe: »Warte, warte nur ein Weilchen, bald kommt auch das Glück zu dir. Mit dem ersten blauen Veilchen klopft es leis’ an deine Tür.« Claudette knickste. Deutlich und so laut, dass der Papagei im Wintergarten wach wurde, sagte sie: »Mein Dank geht an Vater und Sohn Kollo.«
    Von Großvätern war nicht die Rede. Claudettes Großvater verachtete Sentimentalität, und er hielt es auch im Alter für unschicklich, wenn ein deutscher Mann Gefühl zeigte. Dennoch erwischte ihn das Jahr 1927 mit Tränen in den Augen.

2
FRÜHLINGSROLLEN
    März 1927
    Obwohl Johann Isidor nie der Mann gewesen war, den es beim ersten Frühlingshauch hinaus in Wald und Flur gezogen hatte, empfand er es doch als Attacke auf seine Freiheit, dass er ausgerechnet an einem der sonnigsten und wärmsten Tage, die der März 1927 bisher geboten hatte, nicht seinen Geschäften nachgehen konnte. Er hatte seine zweite Tasse Frühstückskaffee noch im Esszimmer getrunken, doch nun saß er fröstelnd in seinem Arbeitszimmer, rechtete mit dem Schicksal und beobachtete vom grünen Windsorsessel aus einen Eichelhäher auf einem Baum.
    Bald begann der Vogelfreund wider Willen zu grübeln, ob die Posamenterie Sternberg künftig nicht eine Kollektion von Federn führen sollte. Seit einiger Zeit neigten nämlich auch weniger begüterte Leute dazu, ihre Hüte mit auffallendem Federschmuck herauszuputzen. Bayerischer und Tiroler Schnickschnack war en vogue – selbst in Frankfurt, wo man in der guten alten Zeit ja sehr auf das Maßvolle gesetzt und Übertreibungen jeder Art verabscheut hatte. Johann Isidor tippte sich an die Stirn. Ihm waren die meisten Dinge suspekt, die südlich des Mains geschahen, aber, wie er seinen Angestellten zu predigen pflegte, es kam im Geschäftsleben ja nicht auf den persönlichen Geschmack an.
    Das linke Bein des Mannes, der es auch in Zeiten der Krankheit nicht lassen konnte, an seine Geschäfte zu denken, war lang ausgestreckt; sein geschwollener Fuß steckte in einem braunbeige karierten Filzschlappen und lag auf einem Hocker mit

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