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02 Die Kinder der Rothschildallee

02 Die Kinder der Rothschildallee

Titel: 02 Die Kinder der Rothschildallee Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefanie Zweig
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sie auch auf seine Konfession hin. Dass sie im Hause Sternberg fünfzig Pfennig mehr pro Stunde verdiente als bei ihren übrigen Putzstellen, erwähnte sie hingegen nie.
    Nicht allein die fehlenden Gardinen im Salon stimmten Johann Isidor schwermütig. Es verdross ihn, dass seine Frau am Tag zuvor seinetwegen Doktor Meyerbeers Sonntagsruhe gestört hatte. Meyerbeer praktizierte seit sechs Jahren nicht mehr. Er fuhr auch nicht mehr Auto, und weil er Schwierigkeiten hatte, in die Tram einzusteigen, und zu sparsam war, ein Taxi zu nehmen, machte der Pensionär alle seine Wege zu Fuß. Für die Sternbergs, die sich einen anderen Hausarzt als den, der sie seit siebenundzwanzig Jahren betreute, noch nicht einmal vorstellen mochten, musste er von seiner Wohnung in der Humboldtstraße zur Rothschildallee laufen. Johann Isidor empfand es als grobe Ausnutzung einer Freundschaft, einem alten Mann solche körperlichen Strapazen zuzumuten. Noch dazu für einen schmerzenden Zeh.
    »Wenn ich noch einen Ton höre, setzt es was«, brüllte er plötzlich in Richtung Diele. Er hielt sich beide Ohren zu und ruderte mit seinem gesunden Fuß über dem Hocker.
    Frau Betsy, immer noch in der Küche mit dem Geschirr beschäftigt, nahm an, ihr leidender Gatte fühle sich durch den Papagei Otto gestört. Seit acht Uhr in der Früh hatte die Frühlingssonne den Vogel zu einem Frohsinn animiert, der im ganzen Haus zu hören war. Nervös, eine Untertasse vom Hutschenreuther-Service in der Hand, hetzte die Hüterin des Heims in den Wintergarten. Sie stellte den kleinen Teller zwischen zwei blühenden Begonien ab und traf Vorbereitungen, den Käfig mit einem dunkelgrünen Deckchen zu behängen, um so bei Tante Jettchens krächzender Hinterlassenschaft den Eindruck zu erwecken, es wäre Nacht und Schlafenszeit.
    »Mach das verdammte Viech nicht verrückt«, protestierte der Hausherr, »der Vogel stört mich doch gar nicht. Der ist direkt Balsam für meine Ohren.«
    »Was stört dich denn sonst, um Himmels willen?«
    »Wer stört mich, nicht was, verdammt noch mal! Bist du denn taub? Dein verehrtes Fräulein Tochter treibt mich in den Wahnsinn. Bitte richte ihr aus, dass zwei begnadete Hungerkünstler in der Familie Sternberg ihrem Vater für ein ganzes Leben reichen. Wenn es sie auch noch nach Ruhm und Ehre dürstet, lernt sie mich kennen. Und zwar umgehend.«
    Zielscheibe des väterlichen Zorns war Alice, die immer Verkannte, ewig Missverstandene. Wegen einer Lehrerkonferenz hatte sie erst zur vierten Stunde Unterricht und zu Hause bereits für einen gewaltigen Sturm gesorgt. Die zierliche schwarzhaarige Fee mit einer nie zu stillenden Sehnsucht, als originell aufzufallen und jedermann zu gefallen, war in einem durchsichtigen schwarzen Negligé von Victoria und mit einer gewaltigen Portion Rouge auf ihren pausbäckigen Kinderwangen am Frühstückstisch erschienen. Sie war von ihrer aufgebrachten Mutter zurück in ihr Zimmer geordert worden und hatte mindestens sechzig Minuten lang jede Nahrung und sogar das herzzerreißende Lächeln der teilnahmsvollen Josepha verweigert. Offenbar hatte sich die kleine Amazone aber schließlich doch von dem schmachvollen Generationenkrieg und der anschließenden mütterlichen Philippika erholt. Pfauenstolz und mit Hüftschwung zelebrierte das tapfere Mädel sein musikalisches Talent an Mutters geheiligtem Flügel.
    Der Vater war aufgestanden und zu ebendiesem Flügel gehinkt; er war also nun in der Lage, seine Vorwürfe direkt an die Tochter zu richten. Die Beleidigte verteidigte sich mit gewohnter Beherztheit. »Das«, ließ sie wissen, »hat uns Fräulein Doktor Kranichstein als Hausaufgabe für die nächste Deutschstunde aufgegeben. Und sie hat ausdrücklich gesagt, ich, eure Tochter, die berühmte Quartanerin Alice Sternberg, habe alle Chancen, meine Note noch zu verbessern.«
    »Hätte«, verbesserte die Mutter mechanisch. Sie stand nun neben ihrem Gatten. »Sie hat gesagt, ich hätte alle Chancen meine Note zu verbessern.«
    »Wieso du?«, fragte das scheinheilige Nesthäkchen.
    Nach entgangenem Frühstück war Alice noch weniger geneigt als sonst, sich durch sprachliche Dispute von ihrem Weg abbringen zu lassen. Mit schlanken Fingern streichelte sie zärtlich den Flügel. Sie lächelte fein, schloss einen Moment die Augen und die übrige Welt aus und stellte sich seufzend vor, sie würde ihre Lehrerin kosen. Fast alle Mädchen in der Klasse schwärmten für Fräulein Doktor Winfried Kranichstein. Sie war an

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