02 Die Kinder der Rothschildallee
einem cognacfarbenen Kissen, dem Betsy im ersten Jahr ihrer Ehe die Worte »Ruhe sanft« in Kreuzstich aufgestickt hatte. Der Leidende legte beide Hände um das Kissen, als wolle er es erwürgen. Dann drehte er es so um, dass er die Schrift nicht mehr sah, schob es zurück unter seinen schmerzenden Fuß und stöhnte. Einer jener gefürchteten Gichtanfälle, die ihn in immer kürzeren Abständen traktierten, hatte zur Abänderung seiner vertrauten Tagesroutine geführt und ihn einer jener häuslichen Putzaktionen ausgesetzt, die er, ohne dies je laut auszusprechen, als den Krieg der Frauen gegen Verstand und Anstand bezeichnete.
Der Hausherr hätte das Großreinemachen an jedem beliebigen Wochentag als Zumutung für einen Mann empfunden, aber dass die verhasste Aktion mit Bohnermaschine, Besen und Seifenlauge ausgerechnet dann stattfand, wenn ihn jedes ungewohnte Geräusch so peinigte, als würde man ihm Nägel ins Hirn bohren, empfand er als den eigentlichen Schicksalsschlag. Nicht nur Betsy, die dabei war, jedes Teil vom Hutschenreuther-Service aus dem Vertiko im Esszimmer zu holen, es in der Küche zu spülen und wieder zurückzutragen, und Josepha, die auf jedes Kissen so laut mit dem Teppichklopfer eindrosch, als ginge es um die Rache an Deutschlands Erbfeinden, torpedierten den Frieden. Auch Frau Winkelried war im Haus.
Die Putzfrau, die sonst nur freitags in die Rothschildallee bestellt wurde, hatte den Auftrag, sämtliche Gardinen abzuhängen, sie in der Waschküche der alljährlichen Frühjahrskur zu unterziehen, zwischenzeitlich sämtliche Fenster zu putzen, die Böden in den Schlafzimmern zu bohnern, das Parkett in den Wohnräumen zu bearbeiten und alle Leisten mit einem feuchten Lappen abzuwischen.
Seit dem September des Vorjahres hatte der Hausherr eine tief gehende Antipathie gegen Frau Winkelried. Da hatte sie damit begonnen, ihr strähniges blondes Haar zu einem Knoten im Nacken zu legen und den obersten Knopf ihrer hochgeschlossenen Bluse mit einer rund geformten Brosche aus geblümtem Stoff zu verdecken. Zunächst hatte Johann Isidor nur vermutet, er würde Anstoß an dem Umstand nehmen, dass eine einfache Zugehfrau sich wie eine Bürgerliche kleidete und frisierte. Bald ging ihm jedoch auf, dass sowohl Frau Winkelrieds Frisur als auch die Brosche ihn in unangenehmster Weise an seine erste Lehrerin erinnerten. Fräulein Forst, wie er gebürtig im hessischen Schotten und mit den Familienverhältnissen eines jeden ihrer Schüler vertraut, hatte dem neunjährigen Johann Isidor Sternberg auch bei null Fehlern im Diktat das »Sehr gut« prinzipiell verweigert. Noch unverständlicher für den Jungen, dem so zu einem sehr frühen Zeitpunkt im Leben das Vertrauen in die Gerechtigkeit genommen wurde: Obgleich die Lehrerin wusste, dass er jüdisch war, fragte sie ihn jeden Freitag in der letzten Stunde, wann ihn seine Eltern denn endlich zur Erstkommunion schicken würden. Die beiden Worte »endlich« und »Erstkommunion« pflegte Fräulein Forst eigens zu betonen und sich dabei den übrigen Schülern und Schülerinnen zuzuwenden. Ohne Ausnahme ließen die grinsend und kichernd wissen, dass sie im Bilde waren.
Johann Isidor hatte Frau Winkelried außerdem im Verdacht, sie mache ihn persönlich für ihre desperate wirtschaftliche Lage als Kriegswitwe mit drei noch schulpflichtigen Kindern verantwortlich. In seiner Gegenwart hatte sie mehrmals unangenehm deutlich gesagt, sie fühle sich für ihre körperlich schwere Arbeit zu gering entlohnt und sie wisse nicht, wie lange ihre Kräfte noch reichen würden. »Jedes Mal, wenn sie mich erblickt, hechelt sie wie ein alter Hund«, beschwerte sich Johann Isidor bei seiner Frau.
»Es könnte ja sein, dass die Arme kurzatmig ist«, meinte Betsy. Sie wusste, dass dies nicht so war, doch war sie nicht gewillt, die Sauberkeit ihrer Wäsche und den einwandfreien Zustand der Fußböden wegen der Empfindlichkeiten ihres Mannes aufs Spiel zu setzen.
»Und warum kann sie stundenlang mit der Putzfrau aus dem Parterre im Hausflur tratschen, ohne dass sie nur ein einziges Mal Atem holen muss?«
Frau Winkelrieds Aversion gegen ihren Brotherrn war eher typisch für die Zeit, in der sie lebte, als eine Sache der Erfahrung. Obwohl ihr sämtliche Kenntnisse fehlten, um die wirtschaftliche Lage im Deutschen Reich zu beurteilen, unterstellte die Putzfrau ihrem Brotherrn, er wäre ein »ganz übler Kriegsgewinnler«. Hielt sie es für angebracht, was immer öfter der Fall war, wies
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