02 Die Kinder der Rothschildallee
der Herderschule in der Frankfurter Wittelsbacher Allee sowohl die Klassen- als auch die Deutschlehrerin der Quarta, schön, temperamentvoll und unglaublich einfallsreich. Ihre Schülerinnen nannten sie »Winnie« und waren bereit, für sie durch Feuer und Wasser zu gehen.
Winnies Haare waren kupferrot und zu einem Bubikopf geschnitten, den vornehmlich die Herrenwelt als fesch bezeichnete. In der Schule erzählten sich die Kinder und auch manche Kolleginnen, Fräulein Doktor Kranichstein benutze Belladonna, damit ihre Augen leuchteten. Für die Geschmeidigkeit ihrer Stimme schlucke sie Kreide wie der Wolf im Märchen, ihre Hände lasse sie bei einer russischen Maniküre pflegen, die früher am Zarenhof gewirkt hätte. Die schöne Lehrerin hatte sehr ungewöhnliche Ansichten über Kinder, deren Lernfreude im Allgemeinen und den Lehrberuf im Besonderen. Aufgeschlossene Eltern – besonders die Väter ihrer Schülerinnen – fanden, Fräulein Kranichstein wäre eine erfrischende Brise in einer Zeit, die Ausschau nach neuen Werten halten müsse. In der Überzahl waren allerdings die Mütter, die es nach der gut überschaubaren Welt der Vorkriegszeit verlangte und nicht nach »neumodischem Firlefanz«. Damen über vierzig waren von der schicken Rothaarigen mit den ausgefallenen Einfällen und den gut geschnittenen Kleidern grundsätzlich irritiert, die Gehässigsten behaupteten, nicht nur die Haare der ungewöhnlichen Pädagogin wären rot. Ihre Gesinnung wäre es auch.
Für die kommende Deutschstunde hatte Winnie aufgegeben, ihre Quartaner sollten sich an einer Vertonung von Mörikes bekanntem Gedicht »Frühling lässt sein blaues Band wieder flattern durch die Lüfte« versuchen. Die Schülerin Alice Sternberg, vom gesamten Lehrerkollegium als phlegmatisch, desinteressiert und minderbegabt gebrandmarkt, hatte sich mit Eifer ans Werk gemacht. Alice, die bei ihrer Geburt von keinem in der Familie willkommen geheißene Nachzüglerin, hatte es immer noch schwer, sich in der Familie zu behaupten. Weil die beiden älteren Schwestern so apart und selbstbewusst waren, die stille Anna allerorten als ein Juwel der besonderen Art gepriesen wurde und weil selbst Misanthropen Claras neunjähriger Tochter Claudette nicht widerstehen konnten, wurde Alice mit den himmelblauen Augen trotz ihres Charmes und ihrer früh blühenden Schönheit selten wahrgenommen.
Das fünfte Kind der Sternbergs, unmittelbar nach dem Soldatentod des Stammhalters geboren und in den schlimmen Jahren von Krieg und wirtschaftlicher Not herangewachsen, blieb selbst dann das sprichwörtliche fünfte Rad am Wagen, als sich die Verhältnisse besserten und die Eltern sich mit dem Segen ihrer späten Jahre doch noch abfanden. Alice war ungewöhnlich musikalisch, was ihrer Mutter jedoch entging. Bei Frau Betsy, die ihre ersten vier Kinder Tag für Tag an den Flügel gezerrt und ihnen zum Einschlafen nur klassische Lieder vorgesungen hatte, waren sowohl die Kräfte als auch der Glaube dahin, gute Beispiele könnten Berge versetzen.
Sie hatte überhaupt nicht versucht, ihr jüngstes Kind in die Welt der Musik einzuführen, nur widerwillig die von der Schule empfohlene Blockflöte gekauft und Alice nie zum Üben gedrängt. Dass ihre Jüngste seit der Sexta im Schulchor war, empfand die Mutter nicht als Auszeichnung. Dafür beklagte sie sich regelmäßig, dass an den Tagen mit Chorprobe der ganze »Haushalt aus den Fugen« gerate. Josepha musste Alice’ Mittagessen nachmittags um drei servieren. Und genau wie früher bei Erwin – und ebenso zum Missfallen ihrer Chefin wie damals – nutzte die Köchin die Gelegenheit aus, um Alice Leckerbissen zuzustecken, von denen die Mutter fand, sie würden Appetit und Charakter verderben.
Alice mit den mittelmäßigen Zeugnissen und der Gelassenheit der Begnadeten interessierte sich ausschließlich für die schönen Dinge des Lebens. In besonders extravaganten Tagträumen sah sie sich mit ihrer Schwester Victoria auf der Bühne stehen – bis zur Wespentaille in Rosenbouquets steckend. Mit ebenso viel Phantasie hatte sich Fräulein Doktor Kranichsteins talentierte Schülerin an ihre Schulaufgaben gemacht – im grünen Flügelkleid und mit silbernen Ballettschuhen. Sie hatte zunächst Mörikes romantisches Gedicht nach der Melodie des beliebten Volkslieds »Am Brunnen vor dem Tore« gesungen. Selbst der Papagei hatte gelauscht und aufgehört, das große Wort zu führen. Unmittelbar nach der Schlusszeile hatte die Solistin das
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