02 Die Kinder der Rothschildallee
zu ihrem zurückhaltenden Naturell passte. Sie aß nicht mehr jeden Abend am Familientisch, legte schon morgens Rouge auf, trug auch wochentags Seidenstrümpfe und wechselte täglich ihre Leibwäsche. Schon nach einer Woche teilte Josepha, auf deren Ohren zwar nicht mehr so gut Verlass war wie früher, die aber immer noch das Gras wachsen hörte, ihrer Chefin mit: »Unsere Anna hat einen Kerl. Und wenn Sie mich fragen, gnädige Frau, so ganz koscher ist der nicht.«
Anders als viele junge Männer, die nicht gelernt hatten, zu sagen, was sie fühlten, war Sepp Huber ein Mann, der reden wollte und dies auch tat. In einer Wirtschaft in Altbornheim, die so eingerichtet war, als wäre Gemütlichkeit immer noch erste Bürgerpflicht, ließ er auch die anderen Gäste wissen, was er dachte. Bei den gemeinsamen Spaziergängen im Prüfling referierte er über das Leid der Welt und seine eigenen Zukunftspläne. Auch an den beliebten, neu angelegten Anlagen am Röderbergweg, die bei den meisten Menschen das Auge entzückten und den Redefluss hemmten, sprach Annas neuer Begleiter ohne Unterlass – meistens von Dingen, die er selbst noch nicht begriffen hatte. Immer wieder sprach der bayerische Kraftbrocken von den neuen Zeiten, die da kommen würden. Im Detail hatte er sein Zukunftsbild von einem Kumpel im Wohnheim übernommen, der an einer Litfaßsäule am Hauptbahnhof den Sepp auf ein Plakat der Nationalsozialisten aufmerksam gemacht hatte. Ein strohblonder Arbeiter mit urgesunden Zähnen lachte darauf wie einer, für den es Wurst und Speck vom Himmel regnet. Er hatte einen schweren Hammer über der Schulter geschwungen. »Wir wollen Arbeit und Brot – Wählt Hitler« war auf dem Plakat zu lesen. Genau das, Arbeit und Brot und genug Haxen, Fleischkäse und Klöße wollte der Huber Sepp. Im Übrigen war er noch nie zu einer Wahl gegangen. Er war der Meinung, Vorbestrafte dürften gar nicht wählen.
Sepp sagte grundsätzlich »wir«, wenn von seiner eigenen Zukunft die Rede war. Obwohl Anna kein Ohr für sprachliche Finessen hatte, fiel ihr das doch auf, aber sie hielt die Pluralform für eine bayerische Sprachgewohnheit. Gerade weil sie in einer Atmosphäre aufgewachsen war, die das laute Wort scheute und erst recht das derbe, erschien ihr der Sepp besonders temperamentvoll und männlich. Wenn er das große Wort führte, spürte sie gar eine Erregung, die sie für Glück hielt. Einmal allerdings verwirrte sie der kühne Schwadroneur doch so sehr, dass sie unsicher, ja ängstlich wurde. Mit zugekniffenen Augen polterte der Mann an ihrer Seite: »Die Judenknechte werden sich noch wundern.« Sein Bierglas knallte er so heftig auf den Tisch, dass sogar die Gäste, die an der Theke standen, sich nach ihm umdrehten. Annas Hals wurde so trocken, dass sie kaum noch schlucken konnte. Sie streckte ihre Arme wie ein Kind aus, das zu stürzen droht. Das wütende Mannsbild an ihrer Seite hatte sich aber schon wieder beruhigt; er schaute Anna so vertrauenerweckend an, als hätte er gerade die Ernte eingefahren. »Prost«, sagte er und leckte den Bierschaum von den Lippen.
Anna hatte das Wort Knecht nur in ihrer Kinderfibel gelesen, doch es nie gesprochen gehört. So kam sie, als Sepp nach ihrer Hand griff und sie seine Kraft und Stärke belebte, abermals zu dem Schluss, sie hätte nur die üblichen Schwierigkeiten mit dem bayerischen Idiom. In der Nacht wachte sie auf. Sie sah sich wieder in der Kneipe sitzen, hörte Sepp reden, sah die Gäste an der Theke gaffen. Die Genauigkeit der Szene nahm ihr erst die Ruhe, dann den Schlaf und schließlich das Gefühl, der Sepp wäre ein besonderer Mann. Sie nahm sich vor, so bald wie möglich mit Erwin zu reden.
Anna beschäftigte sich kaum mit Politik. Im Februar hatte sie sich keinen Tag, wie Vater und Bruder, darüber erregt, dass der Österreicher Adolf Hitler deutscher Staatsbürger und in Braunschweig zum Regierungsrat vereidigt worden war. Trotzdem begriff sie, dass Sepp Huber von den Nazis sprach und dass er dabei seine Contenance verlor und sich sein Gesicht zu einer Fratze verzerrte, als wäre der Teufel hinter ihm her. »Die werden«, sagte er bei jeder Gelegenheit, »schon noch ihre Quittung kriegen.«
Noch wusste Anna nicht genau, wer die Nazis waren und was sie wollten, doch hatte sie begriffen, dass die Nazis im Hause Sternberg ein konstanter Anlass zu heißen Diskussionen und großer Erregung waren. Selbst Frau Betsy schimpfte mit, wenn im Salon die Flammen loderten. So war es der
Weitere Kostenlose Bücher