02 Die Kinder der Rothschildallee
das eindrucksvollste und phantasievollste Kampflied in Europa bezeichnet. Johann Isidor runzelte die Stirn und unterdrückte schmallippig den Impuls, Geschichtsbewusstsein in das hübsche Köpfchen seiner jüngsten Tochter zu schütteln. Eine alte Dame, von der die Gastgeber nicht wussten, wer sie eingeladen hatte, schüttelte ihren grauen Lockenkopf so heftig, dass die Brosche aus Karneol, die ihre violette Rüschenbluse über dem Busen zusammenzuhalten hatte, auf den Boden fiel.
Anna hatte einen kleinen Ball aus Filz dicht mit einem weißen Leinenfaden umhäkelt und auf einer Seite mit winzigen Stichen Struwwelpeter, den garstigen Frankfurter Buben mit dem ungekämmten Haar, der roten Jacke und den grünen Gamaschen aufgestickt. Auf der anderen Seite leuchtete das alte Frankfurter Stadtwappen mit Adler und Krone. Ein jeder bewunderte das Meisterstück – die Kenner wahrlich nicht nur deshalb, weil es eine so akkurat ausgeführte Handarbeit war.
»Eine gelungene politische Demonstration«, lobte Doktor Nathan Rosenbusch mit heiserer, doch deutlicher Stimme. »Der Pfeil hat getroffen. So was gehört in die Zeitung.« Der silberhaarige Beifallspender war Oberstudienrat im Ruhestand, immer noch dem Kaiser, dem er zwei Söhne und seinen Glauben an den Sinn des Lebens geopfert hatte, in Treue fest verbunden und Großonkel des Geburtstagskindes.
Nicht alle waren sich im Klaren, wovon der ehemalige Lehrer für Griechisch und Geschichte sprach. Trotzdem nickte ein jeder Zustimmung. Ausgerechnet in Frankfurt, wo man das Vergangene in Ehren zu halten wusste, hatte in den Zwanzigerjahren Oberbürgermeister Ludwig Landmann unter Berufung auf den Zeitgeist und zum großen Missfallen der Bürger das vertraute Stadtwappen durch eine sehr moderne – expressionistisch gestaltete – Kreation des Grafikers Hans Leislikow ersetzt.
Johann Isidor Sternberg, kein Frankfurter von Geburt, doch ein Leben lang Lokalpatriot, streichelte die glühende Wange seiner Lieblingstochter. Aprikosenduft, der nie vergessene Bilder vor seine Augen trieb, erreichte seine Nase. Für einen Moment, der länger als gewohnt weilte, dachte er an die Nacht, der er sein Kind der Liebe verdankte, doch er war zu stolz auf Anna und zu verbunden mit ihr, um auch nur einen Herzschlag lang Buße zu tun.
»Das ist ganz großartig«, schwärmte er, »deinen Ball sollten wir in Serie anfertigen lassen. Schon wegen Struwwelpeter wäre er für Reisende ein typisches Mitbringsel aus Frankfurt, und nach all der Aufregung um das Wappen würden sich auch die Leute hier um ihn reißen. Man hat weiß Gott ja nicht jeden Tag Gelegenheit, ein Stück von der guten alten Zeit in die Vitrine zu stellen. Warte nur ab, Anna, um die Zeit nächstes Jahr bist du eine Bombenpartie. Das verspreche ich dir unter Zeugen. Ich hoffe nur, dass nicht irgendein dahergelaufener Galgenstrick ankommt und mir die Stütze meiner alten Tage wegheiratet.«
»Ich kapiere wieder mal nichts. Gar nichts. Ich hab doch nur einen Ball gehäkelt.«
»Ja glaubst du, ich bemächtige mich einer Idee meiner tüchtigen Tochter und lasse sie leer ausgehen? Noch gilt in Deutschland deutsche Kaufmannsehre, mein Kind. Jeder Pfennig, den wir mit deinem Ball einnehmen, wird geteilt.«
Den Galgenstrick, der Ansätze machte, die nüchterne Frankfurter Bürgerstochter um Verstand und Jungfernvorsicht zu bringen, gab es schon. Aus gutem Grund hielt er sich bedeckt. Jeder Vater mit einer Tochter im heiratsfähigen Alter hätte auf den ersten Blick erkannt, dass dieser Mann weder einer von Ehre war noch zum Schwiegersohn taugte. Auch bei seiner Anna, wie zuvor bei Clara und Victoria und demnächst bestimmt auch bei Alice, hatte Johann Isidor den Moment verpasst, in dem seine Töchter bereit zum Aufbruch waren und Neuland suchten. Anna war die Spätentwicklerin des sternbergschen Mädchenquartetts. Sie setzte gerade erst an, versäumte Zeit aufzuholen – dies allerdings mit Siebenmeilenstiefeln. In ihren Jungmädchenträumen hatten ein naturverbundener Wandersmann und drei liebreizende Kinder die Hauptrollen gespielt, sie hatte auf einer Bank vor ihrem Häuschen im Grünen gesessen, Erbsen gepult und Strümpfe gestrickt. Nun aber verlangte es ihr, wie Renate Müller auszusehen, die patente junge Schauspielerin, die in dem UFA-Film »Die Privatsekretärin« Furore gemacht hatte.
Die neue Anna mit der gewellten Kurzhaarfrisur und einem Hut mit breitem Hutband und schmaler Krempe ging seit sechs Wochen mit einem
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