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02 Die Kinder der Rothschildallee

02 Die Kinder der Rothschildallee

Titel: 02 Die Kinder der Rothschildallee Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefanie Zweig
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sechsundzwanzigjährigen Hünen aus, der in nichts ihrem einstigen Traumbild entsprach. Zwar hatte der dunkelblonde Siegfried mit den kraftvollen Schultern bei schummriger Beleuchtung und nach den vier Glas Obstwasser, die er sich an Samstagabenden zu spendieren pflegte, den gleichen verschleierten Blick wie der berühmte polnische Tenor Jan Kiepura, der an allen Operhäusern der Welt und im Film Triumphe feierte und den Anna wie ein verliebter Backfisch anhimmelte. Der Muskelmann, der Anna schöne Augen und derbe Komplimente machte, sang nicht – er grölte, wenn ihn die Sangeslust packte. Und er kam, wie Name und Sprache überdeutlich machten, aus Bayern.
    Der Ausländer aus dem Land der Lederhosen und Gamsbärte hatte keinen Beruf, nur Flausen in seinem Querkopf und ein ausgefallenes, nutzloses Talent: Sepp Huber konnte meisterhaft mit dem Jojo umgehen. Wenn er das tat, und das tat er, wann immer er dazu Gelegenheit fand, blieben die Leute auf der Straße stehen, die Frauen bewunderten seine schöne Zähne, und die Kinder bekamen begehrliche Bettleraugen. Das Jojo war zwar nur ein Kinderspielzeug, doch auf einen Schlag waren ihm in großen Teilen der Welt Alt und Jung verfallen; der fingerflinke Sepp stammte just aus dem Ort, an dem die kurioseste Erfolgsgeschichte der Nachkriegszeit ihren Anfang genommen hatte. Im bayerischen Furth im Wald, wo er noch als Vierzehnjähriger gedacht hatte, die kleine Stadt sei Anfang und Ende allen Lebens, wurden die maschinell gefertigten Holzscheiben für das Geschicklichkeitsspiel hergestellt, von Hand bemalt und in aller Herren Länder exportiert. Schließlich hatte es den Sepp aus einer Landarbeiterfamilie, in der kaum einer das Brot verdiente, um das er täglich betete, vor sechs Jahren nach Frankfurt gezogen. Dort hatte er bei einer seiner vier Schwestern und gegen den Willen seines mürrischen, rasch zuschlagenden Schwagers auf einer Matratze in der Küche genächtigt.
    Von der Klapperfeldstraße aus, wo Schwester Maria mit ihrem Mann und drei Kindern in zwei in einem Hinterhaus gelegenen Zimmern lebte, probierte Bruder Sepp, seine Illusionen zu realisieren. Polizist wollte er werden – selbstredend dort, wo keiner was von ihm wusste. Nach Macht und Ansehen hatte es ihn schon als Bub verlangt, aber seine Vergangenheit verwehrte es Sepp Huber, ein geachteter Mensch, eine Respektsperson zu werden. Eine Vorstrafe wegen schwerer Körperverletzung wies ihn in seine Schranken. Der Schwager, der Sepp selbst die Luft zum Atmen missgönnt hatte, nahm die Ablehnung bei der Polizei zum Anlass, ihm die Tür zu weisen. »Ein für alle Mal, du vorbestrafter Lump«, rief er dem Bruder seiner Frau in die Dunkelheit nach.
    Das Jojo-Fieber, das auf der Höhe der Arbeitslosigkeit neue Arbeitsplätze geschaffen hatte, trieb Sepp wieder nach Hause zur Großmutter. Von den Frankfurter Hungertagen und der großen Enttäuschung päppelte die Greisin ihn mit Schmalzbroten und Rettich aus dem eigenen Garten auf, traktierte ihn indes so sehr mit ihren frommen Sprüchen und bedrohte ihn schon beim Aufwachen mit Tod, Teufel und Höllenfeuer, dass er trotz der guten Stellung in der Jojo-Werkstatt nach acht Monaten zurück nach Frankfurt floh.
    Dort drehten sich die Mädchen verlangend nach dem breitschultrigen Riesen um, der Tabak kaute, statt ihn zu rauchen, und der sich mit einem blauweißen Tuch, das wie eine Fahne aussah, den Schweiß von der Stirn wischte. Als Anna ihn kennenlernte, war Sepp zwar ohne regelmäßige Arbeit, doch nicht mittellos. In regelmäßigen Abständen arbeitete er bei einem Fischgroßhändler, für den er Kisten schleppte und Heringsfässer ausschrubbte, und in einer großen Kohlenhandlung. Wie es einst Adolf Hitler in seinen Anfängen getan hatte, wohnte Sepp Huber in einem Männerheim. Die Parallele beschäftigte ihn sehr.
    Das Asyl, das ihm Obdach gab, roch nach verbrannten Bratkartoffeln, Küchenresten und Schweiß. Es lag am Ostbahnhof und stand bei den Menschen dort in keinem guten Ruf. Solche Details wurden dem feschen Fräulein aus Frankfurt in ihrer Gesamtheit verschwiegen. Der Schlaumeier aus Bayern hatte Anna ausgerechnet vor der sternbergschen Posamenterie in der Hasengasse kennengelernt. In dem Schicksalsmoment hatte sie Bordüren im Schaufenster drapiert, eine kopflose Schneiderpuppe mit gelber Seide behängt und mehr Bein gezeigt, als sie es im Allgemeinen beim Dekorieren tat.
    Ab diesem Augenblick entwickelte sich Annas Leben in einem Tempo, das absolut nicht

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