02 Die Kinder der Rothschildallee
er, Lukullus hätte ihm neue Dimensionen des Genusses eröffnet. Victoria fixierte die Sauciere und fragte, wer Lukullus sei. Er stand spontan auf und küsste sie. Eine vergoldete Barockputte mit Kinderaugen segnete das glückliche Paar. Der vom Kellner gepriesene einheimische Gewürztraminer war allerdings für Menschen, die Alkohol nur zu besonderen Festivitäten tranken, viel zu schwer.
In der historischen Hochzeitssuite und unter einem himmelblauen Baldachin verloren die Gedanken, Empfindungen, Erwartungen und Hoffnungen der frisch Vermählten ihre Konturen und ihre Richtung. Es war, wie sich im Rückblick herausstellte, ein barmherziger Einfall des Schicksals, der allerdings nicht von Dauer war. Beim Erwachen wurde dem jungen Ehemann nämlich doch und für immer bewusst, dass vor ihm ein anderer Mann seine geliebte Frau hatte erobern dürfen.
Die Erkenntnis zerschnitt sein Herz und verletzte seinen Männerstolz, er war jedoch von seinen Eltern und Lehrern früh dazu erzogen worden, nicht mehr als nötig über Enttäuschungen zu sprechen, die nicht mehr zu ändern waren. So haderte er lediglich mit dem Schicksal und nicht mit der Frau, die ihm die Wunde zugefügt hatte. Auf der sonnendurchfluteten Terrasse starrte Friedrich Feuereisen am ersten Tag seiner Ehe die ockergelben Mauern und das im Morgenwind schwingende Hotelschild an. Er lauschte den Vögeln und belauschte sein Gemüt. Als er endlich sein Schweigen brach, machte er seiner jungen Frau weis, es wäre der Wein, den er nicht vertragen hätte und der nun beim Frühstück seine Redelust dämpfte. »Du weißt ja«, zitierte der gelernte Taktiker aus dem Sprichwortschatz seiner Mutter, »wer schweigt, sagt auch etwas.«
Victoria dachte an ihren schlauen Bruder und was er über Männer und Alkoholgenuss in der Hochzeitsnacht gesagt hatte. Einen Wimpernschlag lang genoss sie Erleichterung und weiblichen Hochmut. Dann griff sie nach Fritzens Hand, rieb sie zärtlich warm und legte sie unter dem Tischtuch auf ihr Knie. Ein Duft von Jasmin wehte zu den frisch Vermählten herüber. Sie schauten in den Obstgarten mit den alten Apfelbäumen und lächelten einander zu, als würden sie an nichts anderes denken als an Adam und Eva im Paradies.
»Du musst«, riet Frau Betsy beim Anschneiden der Torten in der Küche, »nach dem Geburtstag das ganze Zeug wegpacken. Die Leute meinen es ja gut, aber das Kind wird ja ganz verrückt gemacht mit den vielen Geschenken. Besser, Fanny wird beizeiten zur Bescheidenheit erzogen. Man weiß ja nie, was im Leben kommt. Das hat schon meine Mutter immer gesagt.«
»Das hast du auch immer gesagt«, erwiderte Victoria mit dem Flunsch ihrer Kindertage, »nur hast du bei jeder Gelegenheit noch zugefügt: Genügsamkeit ist der größte Reichtum. Am liebsten hättest du meine Geschenke vom guten Tante Jettchen vor ihren Augen beschlagnahmt. Ich denke nur an einen Griffelkasten mit dem Bild von Wilhelm Zwo auf einem Schimmel. Wahrscheinlich kannst du dich aber gar nicht mehr erinnern. Mütter nehmen ja das Herzleid ihrer Töchter nicht so ernst.«
»Ich kann mich genau erinnern, aber ich will nicht. Außerdem bist du jetzt selbst Mutter. Warte nur ab, was dir deine Tochter eines Tages alles vorwirft. Hoffentlich erlebe ich’s noch.«
Anna traf als Letzte ein. In ihrem blauen Mantelkleid mit weißem Bubikragen und Manschetten entsprach sie ganz dem Modebild, das die altmodischen Frauenzeitschriften als »frisch« und »jugendfroh« zu bezeichnen pflegten. Sie wirkte jedoch abgehetzt und besorgt, schien sich aber zu fassen, als Erwin zu ihr ging, sie an beiden Händen festhielt und ihr einige Worte zuflüsterte. Eifrige Lauscher hörten ihn »Kindskopf!« raunen.
Ein jeder konnte sehen, dass Annas Geschenk Fanny am allerbesten gefiel. Prinzesschen mit dem Lorbeerkranz auf der Brust warf es abwechselnd auf den Boden, ließ es sich von Hofdame Anna wieder reichen, umschlang es krähend mit beiden Händen und gurgelte eine Silbenfolge, die Vater, Großvater und Josepha – ohne ihre übliche weiße Servierschürze, aber mit dem Tortenheber in der Hand – in schöner, seltener Einigkeit als »Danke« deuteten.
»Hurra«, klatschte Alice. Die Siebzehnjährige sah nicht aus wie eine, zu der die Kinder Tante sagen – eher wie ein Revuegirl. Sie machte auf dem neu gelegten Parkett ein paar Steppschritte und summte dazu die Marseillaise. Fräulein Doktor Kranichstein, ihre immer noch geliebte Deutschlehrerin, hatte soeben die Marseillaise als
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