02 Die Kinder der Rothschildallee
Claudette.
»Dein Wort in Gottes Ohr«, erwiderte ihre Mutter. »Von jetzt ab hat dieses Wort seine ganz eigene Bedeutung.«
»Pst«, zischte Betsy, »nicht heute. Nicht am Jontef.«
»Wen willst du schonen, Mutter?«
»Mich.«
Zwischen dem in Honig getauchten Apfel, von dem sich die Tischgesellschaft wider besseres Wissen ein süßes Jahr erhoffte, und den Lachskugeln in geschlagener Eiersoße, an denen der kleine Salo auf Vaters Schoß schon lecken durfte, räusperte sich Victoria. »Uns bleiben«, sagte sie mit einer Stimme, die nur eine Spur weinerlich war, »noch genau fünf Tage in der Günthersburgallee. Ich bin dauernd am Überlegen, ob es für Fritz nicht doch leichter wäre, sich mit der Lage zu arrangieren, wenn er nicht mich und die Kinder als Klotz am Bein hätte. Wenigstens eine Weile.«
»Wie in aller Welt kommst du denn darauf?«, wunderte sich Fritz. Er reichte den krähenden Salo an seine Mutter weiter.
»Ach, meine Freundinnen haben mich darauf gebracht. Kätchen Karlitz hat ihr Mann zu seiner Schwester nach Bad Kreuznach geschickt. Susi Kleinmann ist schon eine ganze Zeit mit den beiden Kleinen in Baden-Baden. Sie hat mir gerade geschrieben und klang recht zufrieden. Das ist bei der guten Susi schon seit Jahren nicht der Fall gewesen.« Einen Moment schien es, als würde Victorias flinke Zunge ins Stolpern geraten. Sie fasste sich kurz an die Stirn – die gewohnte Andeutung, dass sie verlegen war und lieber geschwiegen hätte. Mit der linken Hand schob sie einen Teil von einem Lachskügelchen in Fannys Mund.
»Donnerwetter«, entfuhr es Johann Isidor. Er bohrte die Fischgabel in einen Lachskloß. Erwin grinste, als wäre er im Bilde. Fritz holte seinen protestierenden Sohn vom weichen Großmutterschoß zurück und hielt ihn sich vors Gesicht. Clara fixierte ihre jüngere Schwester und dachte Unfreundliches. Alice nicht minder. Anna lächelte sich fort vom Geschehen. Frau Betsy wurde klar, dass Victoria fortan nicht mehr die Trumpfkarte würde ausspielen können, sie wäre ein ahnungsloser Engel auf steter Suche nach Aufklärung. »Das Stück ist gelaufen«, stellte sie fest, doch nur die lauschende Josepha, die in der Küche den Kalbsbraten aufschnitt, begriff auf Anhieb, was die Hausherrin meinte.
Sobald irgendwo ein Feuer loderte, dessen Flammen auch sie bedrohten, pflegte sich Victoria einzuigeln und zurückzuziehen, zu schweigen und sich möglichst unsichtbar zu machen. Sie nahm sich gut in Acht, erst wieder aufzutauchen, wenn sich die letzten Rauchschwaden verzogen hatten. Seit dem Reichstagsbrand hatte die Meistertaktikerin alle, selbst ihren Mann und ihren Bruder, glauben lassen, sie würde die politische Entwicklung in Deutschland nicht in voller Tragweite begreifen. Die beschmierten Schaufensterscheiben der väterlichen Geschäfte und die Bestürzung ihres Vaters hatten sie zu keinem Kommentar veranlasst. Die Schilder »Kauft nicht beim Juden«, von denen wahrlich nicht alle nach dem Boykott verschwunden waren, schien sie zu übersehen. Die selbstbewusste Frau Feuereisen ging in die Stadt, als wäre sie immer noch das reiche Fräulein Sternberg mit dem vom Vater gut gefüllten Portemonnaie.
»Und nun«, zog Betsy Bilanz und wurde wieder die Mutter, die streng Gerichtstag hielt, »gibt uns unsere kluge Tochter zu verstehen, dass sie die ganze Zeit doch mitgedacht hat. Ich habe schon immer geahnt, dass sie ihren Kopf nicht nur als Hutständer benutzt. Bravo, Victoria. Du hast dir ja schon als Kind nicht in die Karten gucken lassen. Ich hab dich immer dafür bewundert, obwohl ich es lästig fand. Jetzt schau mich bloß nicht so waidwund an. Ich bin sehr dafür, dass du die Zeit überbrückst, bis ihr in der Beethovenstraße unterkommt. Den Kleinen wird’s guttun, wenigstens eine Weile der allgemeinen Nervosität und Aufgeregtheit zu entkommen.«
»Recht hast du, Vicky«, stimmte auch Erwin zu. »Reisende soll man nicht aufhalten. Aber diesmal kaufst du dir die Schokoladenpflaumen in Goldpapier gleich am ersten Tag. Tante Jettchen hat mir extra aufgetragen, dir das zu sagen, wenn sich die Gelegenheit ergibt. Schließlich weiß man nie, wann wieder ein Weltkrieg ausbricht.«
»Ach, du«, schluckte Victoria, »du hast mal wieder gespickt.«
»Ich hab dich nur durchschaut, Vickylein. Ich weiß, was du suchst. Das tun wir alle. Doch du wirst nicht fündig werden. Vorbei ist vorbei. Da helfen noch nicht mal Gebete.«
Johann Isidor zog die Fischgabel aus der Lachskugel. Er hielt sie
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