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02 Die Kinder der Rothschildallee

02 Die Kinder der Rothschildallee

Titel: 02 Die Kinder der Rothschildallee Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefanie Zweig
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erbeten habe«, antwortete Wilhelmine Feuereisen. Obwohl sie sich eine Närrin schalt, die Ursache und Wirkung verwechselte, errötete sie und wurde mit einem Herzschlag um zehn Jahre jünger. Am Abend versprach sie Gott, ihn nie wieder mit einer Bitte zu belästigen. Sie hatte, als ihr Sohn seine Existenz und allen Lebensmut verlor, sich nicht getraut, von den eigenen Sorgen zu sprechen. Ihre Untermieterin sollte zum Jahresende nach Wiesbaden ziehen, und Frau Wilhelmine hatte einen Berg von unlösbaren Problemen auf sich zukommen sehen: »Fritz«, schlug sie vor, »kann sofort kommen. Ich mache ihm sein altes Zimmer neben der Kammer zurecht. Nur für die Kleinen wird’s eng. Könntest du nicht bis Januar, wenn die anderen Zimmer frei werden, bei deinen Eltern unterkommen, Vicky? Da hast du es doch bequemer.«
    »Ich kann«, erklärte Victoria, »aber bequem wäre das nicht, Minchen. Meine Mutter ist keine Bequeme. Ursprünglich wollte Gott aus ihr einen Dirigenten machen. Oder einen Löwendompteur.«
    Die junge Frau Feuereisen wusste auch zu dirigieren. Vor allem im Kreis der Familie beherrschte sie immer noch die Kunst ihrer Kindertage, die Marzipanrose auf der Torte auf den eigenen Teller umzuleiten. In ihrem Fall war die süße Trophäe eine Reise, und die bedeutete Ferien, Flucht, Vergessen. Noch einmal eintauchen in die Vergangenheit, nicht sehen, was geschah, nichts mehr hören von Drangsalierung, Berufsverbot und Zukunftsangst, nicht erleben müssen, dass die Menschen, die man liebte, graue Gramgesichter und glanzlose Augen hatten. Ferien bedeuteten, in der Nacht den eigenen Mann nicht stöhnen zu hören und beim Aufwachen nicht vergebens auf die Wärme seines Körpers zu warten.
    »Nur noch einmal leben wie früher, in der Sonne sitzen und an einem roten Lutscher lecken und darauf warten, dass Tante Jettchen um die Ecke biegt«, flüsterte Victoria ihrem Sohn ins Ohr. Salo der Verschwiegene gähnte, obwohl er schon seit Wochen zu lächeln wusste.
    »Ich auch«, forderte Fanny. Sie stellte sich auf die Zehenspitzen und zupfte an ihren Locken.
    »Musst’ nicht alles haben«, sagte ihre Mutter. »Das weiß keiner besser als ich.«
    Victoria wartete noch zwei Wochen. Ratlos war sie, weil sie nicht deuten konnte, was ihr widerfuhr, und schuldbewusst, weil sie es dennoch ahnte. Ihre Wünsche und Träume gaben sie nicht frei. Das Verlangen, wenigstens für eine kurze Zeit das Damoklesschwert nicht zu sehen, das an einem seidenen Faden über dem Kopf der Juden in Deutschland hing, brannte in ihrem Körper wie ein Nagel, der glühend heiß in eine Tür aus Eisen gestoßen wird.
    Es war zu Rosch Haschanah im September. Das neue jüdische Jahr wurde mit traditioneller Festlichkeit willkommen geheißen und so, als sei in dem Jahr, das soeben abgelaufen war, nichts von Bedeutung geschehen und auch in Zukunft kein Unheil zu erwarten. »Das«, sagte Erwin, und er hatte den Mut, beim Sprechen seinen Vater anzuschauen, »hat Hitler also schon geschafft. Er hat aus uns, die wir deutscher waren als die Deutschen, richtig gute, gottesfürchtige Juden gemacht.«
    Die Challa allerdings fehlte. Selbst Josepha hatte nicht die Courage aufgebracht, noch einmal vor einem jüdischen Feiertag einen Mohnzopf zu bestellen. In den Silberleuchtern aber, die Betsy zur Hochzeit von ihrer Großmutter bekommen hatte, brannten die Kerzen wie seit Jahren. Ihr Licht spiegelte sich in den farbigen Weinrömern aus Böhmen, die nur an den hohen Feiertagen aus der Vitrine geholt wurden. Der Tisch war mit der weißen Damasttischdecke aus Betsys Aussteuer eingedeckt. »Zwölf Personen samt Servietten«, hatte sie mit Hausfrauenstolz in den Jahren der Fülle zu sagen gepflegt. Frau Winkelried, die Zugehfrau, die ihre jüdischen Arbeitgeber bis zu ihrem letzten Arbeitstag verachtet hatte, hatte eine Serviette beim Bügeln versengt und zwei gestohlen.
    Die Kinder hatten Lätzchen mit Häkelrand um den Hals, Fanny rosa, Salo hellblau. Das hellblaue hatte Josepha für ihren Hätschelbuben Erwin gehäkelt und immer selbst gewaschen. Aus der Küche duftete die Hühnersuppe. Die gehackte Hühnerleber mit gebratenen Zwiebeln stand schon auf dem Tisch. In einer gravierten Silberschale mit Glaseinsatz. Den Deckel hatte Alice zerbrochen, damals vier Jahre alt und auf dem Weg, eine jüdische Prinzessin zu werden. Die Schuld hatte sie auf einen rothaarigen Troll mit schwarzen Zähnen geschoben, den nur sie sehen konnte.
    »Es ist alles wie immer«, staunte

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