02 Die Kinder der Rothschildallee
und Spieler an die Oos gelockt hatte, war von den Nazis dazu bestimmt worden, die »Besuchskarte« Deutschlands zu sein. Noch heiliger als zur Kaiserzeit war im Jahr 1933 den Kaufleuten und Wirten das internationale Flair der geldbesonnten Tage. Es war für sie eine Frage des Überlebens, dass die gut betuchten ausländischen Gäste in ihrer Heimat erzählten, die Berichte von antijüdischer Hetze und von Schikanen in Deutschland seien nur übelste Gräuelmärchen. Die Juden hätten sie selbst in die Welt gesetzt. Der Baden-Badener Burgfrieden blendete auch manchen Juden, der sich an den Glauben klammerte, er könnte sich mit den Verhältnissen in Deutschland arrangieren. Nicht nur, dass die Juden, wie in der Kaiserzeit und den Zwanzigerjahren, als Kurgäste nach Baden-Baden kamen. Sie kauften Häuser, mieteten Villen, ließen sich nieder und erzählten einander, dass die »Dinge bestimmt bald wieder ins Lot kommen« würden.
»Nein, wir lassen Salo noch ein bisschen schlafen, und du gehst mit deinem schönen neuen Ball spielen«, sagte Victoria zu ihrer Tochter.
»Wo ist Gustel?«
»Gustel ist nach Hause zu ihrer Mama nach Friedberg. Das habe ich dir doch schon so oft erklärt.«
»Fanny will zur Oma«, jammerte Fanny. »Oma ist lieb.«
»Hier ist es doch viel schöner als in Frankfurt. Hier scheint die Sonne wie im Sommer, und du brauchst keine langen Strümpfe anzuziehen und keine Handschuhe. Schau doch mal, die Rosen blühen noch, und die Vögel singen. Hier ist das Paradies, mein Kind.«
»Fanny will keine Rosen nicht.«
»Du bist eine Pest«, sagte ihre Mutter. Sie sprach in liebenswürdigem Ton, und von ihren Lippen kam ein besonders liebevolles Mutterlächeln, denn sie saß nicht allein auf ihrer Lieblingsbank im Kurpark. Victoria schaute hinauf zum Ginkgobaum; der von Goethe besungene Blattzauberer war noch im Sommerkleid. Seine Bewunderin seufzte– allerdings so leise wie ein Windhauch. »Eine richtige kleine Pest bist du«, wiederholte die Mutter, der das Leben nicht mehr gestattete, mit den Wolken zu reisen und nach den Sternen zu greifen. Sie schob ihre nörgelnde Tochter vom Schoß, stellte sie ein wenig unsanft auf den Boden, sagte energisch: »Los, du kleiner Faulpelz!«, und warf den Ball in Richtung Wiese.
Victoria hatte eine dunkelblaue Jacke mit weißem Kragen und blitzenden Goldknöpfen an. Die Jacke erinnerte an die Matrosenkleider der Vorkriegszeit, der sanfte Blick aus großen Augen immer noch an das niedliche Kind, das stets mehr Aufmerksamkeit erregt und mehr Wohlwollen geerntet hatte als die Freundinnen und Mitschülerinnen. Wenn Fanny mit dem großen Wortschatz und dem unerschöpflichen Vorrat an Widerspruch es zuließ, dass ihre Mutter wenigstens für die Dauer eines Atemzugs die Augen schließen und aus der Gegenwart ausbrechen konnte, sah sich Victoria als Sechsjährige. Sie hatte eine weiße Taftschleife im Haar und einen mit Perlen bestickten Beutel über dem Arm. Großtante Jettchen spannte ihren gelben Parasol auf. Hellblaue Vögel umkreisten seine Spitze. Hand in Hand gingen das vollschlanke Tantchen und die froh gestimmte Nichte, die unterwegs ein paarmal in den Himmel hüpfte, in die Konditorei. Unterwegs trafen sie Trolle und Heinzelmännchen, Menschen, die Kinder anlächelten, und immer wieder Französisch parlierende Damen in lindgrünen Kleidern, an ihrer Seite Kavaliere mit Samtwesten und seidenen Halstüchern. Manchmal sprangen Erwin und Clara hinter einem Baum hervor und versuchten, ihre kleine Schwester vom Platz an der Sonne zu verdrängen, doch das ließ Victoria nicht zu. Jettchen und sie hatten nämlich einen Beschützer; er trug eine spitze Tarnkappe und war doppelt so stark wie der Riese Goliath.
Victoria rieb ihren Kopf frei. Beim zweiten Mal tat der Seufzer weh. Sie hatte nicht erwartet, dass ihr in Baden-Baden die Vergangenheit so schmerzhaft und die Tage so lang werden würden. Die alte Dame neben ihr auf der Bank mit dem moosgrünen Hut und dem schwarzen Mantel nickte. Victorias Seufzer hatte sie aus dem kurzen Schlummer gerissen, der das Alter und die Erinnerungen erträglich macht. »Täuschen Sie sich nicht, junge Frau«, sagte sie, »das Paradies ist auch nicht mehr, was es war. Und es ist auch nicht mehr hier.«
Ihre Sprache hatte die angenehme Klangfärbung der Berliner, die Stimme war kräftig, sie selbst war klein und wirkte fragil. Mit ihrem silbergrauen, sorgsam ondulierten Haar und dem gesunden Teint eines jungen Mädchens sah sie aus wie
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