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02 Die Kinder der Rothschildallee

02 Die Kinder der Rothschildallee

Titel: 02 Die Kinder der Rothschildallee Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefanie Zweig
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die liebenswerten Großmütter in Kinderbüchern, die in geblümten Ohrensesseln sitzen, Strümpfe stricken und artigen kleinen Enkeln Märchen vorlesen. Der erste Eindruck war ein gewaltiges Missverständnis. Die Berlinerin von der Parkbank erzählte keine Märchen mehr. Sie hatte in den letzten sieben Monaten zu viel gesehen und zu viel erlebt.
    Jeden Morgen und jeden Nachmittag kam sie in den Kurpark, immer um die gleiche Zeit und stets mit einem Buch, das in einer weinroten, bestickten Samthülle steckte. Selbst wenn etliche andere Bänke frei waren, fragte sie Victoria, ob sie sich zu ihr setzen dürfte. Sie lächelte den Kindern zu; bald lächelte Fanny zurück. Manchmal zeigte die Kleine auf die bunt belaubten Bäume und sagte: »Meine, meine!«, worauf die alte Dame zu antworten pflegte: »Das ist aber schön.« Einmal sagte sie Siggi zu Salo, obwohl sie da schon seinen Namen kannte. Danach nestelte sie nervös an ihrem Mantelknopf.
    »Siggi«, plapperte Fanny nach.
    Ab da hatte die Kinderfreundin für Fanny einen Bonbon im roten Glanzpapier in der Manteltasche. An einem Sonntag spielte die Kurkapelle überraschenderweise ein Potpourri aus Jacques Offenbachs »Orpheus in der Unterwelt«, obgleich der »Nichtarier Offenbach« in Ungnade gefallen war und seine Werke auf der Verbotsliste standen. Noch während sie Beifall klatschte, erzählte Victoria ihrer Banknachbarin von ihrer überstürzten Abreise bei ihrem letzten Aufenthalt in Baden-Baden. »Der Krieg ist dazwischengekommen«, sagte sie. »Wir mussten abreisen. Von einem Tag zum anderen.«
    »Kriege kommen immer dazwischen. Bei meinem Sohn auch. Er wollte Medizin studieren und Kinderarzt werden und selbst mindestens zehn kriegen. Er war vollkommen kindernärrisch, mein Siggi. Keiner durfte seine kleine Schwester auch nur schief anschauen. Mein Mann hat immer gesagt, der Junge heiratet noch seine Schwester.«
    »Gefallen?«, fragte Victoria. Ottos Tod hatte sehr früh ihren Sinn für Menschen geschärft, die unvermittelt die Vergangenheitsform benutzten.
    »Ja. In Tannenberg. Da war nämlich Hindenburg der Einzige, der gesiegt hat. Die Soldaten sind auf dem Feld der Ehre geblieben. Siegfried war der älteste von meinen Dreien. Und der begabteste.«
    »Mein Bruder ist auch gefallen. Wir waren fünf, aber die Jüngste, unsere Alice, hat Otto überhaupt nicht mehr kennengelernt. Der wusste noch nicht einmal, dass sie unterwegs war.«
    Die Berlinerin mit dem Bonbon, das in der Sonne wie ein Rubin glänzte, und einem Lächeln, das selbst die fremdenscheue Fanny erreichte, hieß Lilly Bär. Ihr Sohn leitete seit drei Jahren ein renommiertes Hotel in Lugano und hatte die Mutter schon zweimal in Baden-Baden angerufen, die Tochter war vor einigen Wochen mit ihrem Mann, einem Mediziner, von Düsseldorf nach Amsterdam gezogen, und die fünf Enkel standen alle vor der Aufgabe, ihre deutsche Muttersprache durch Holländisch zu ersetzen. Seit März war Frau Bär Witwe. Sie berichtete das, ohne ihre Stimmlage zu verändern, so als wäre der Tod des Ehemanns ein alltägliches Schicksal in ihrem Alter. Er war ein in ganz Deutschland bekannter Kunsthändler gewesen. Sie hätte, erzählte sie, nach seinem Tod überstürzt ihre Villa in Berlin verlassen und wäre »mit kleinem Gepäck« nach Baden-Baden gekommen. »Wer weiß, wie lange.«
    »Mein Gott, wie halten Sie das bloß alles auseinander?«, fragte Victoria, »So viele Veränderungen in so kurzer Zeit. Holland und Düsseldorf und die Schweiz. Und Berlin und Baden-Baden. Da würde selbst ich die Dinge durcheinanderbringen, und ich bin ja ein paar Jährchen jünger.«
    »Das Leben macht flexibel. Da kommen Sie auch noch dahinter. Hoffentlich nicht allzu bald. Die Wirklichkeit ist eine Lehrmeisterin, die weder Gnade noch Zurückhaltung kennt.«
    Eben weil sie so jung und unerfahren und auch noch nicht neugierig genug auf das Leben war, hatte Victoria nicht die Gewohnheit, Namen zu deuten und sich aus Details, die man ihr erzählte, ein Gesamtbild zu machen. Sie kam überhaupt nicht auf die Idee, ihre Bekannte von der Bank könnte jüdisch sein. Lilly Bär dagegen reichten zwei Sätze, um Bescheid zu wissen. Als Victoria ihr nämlich erzählte, dass sie auf Empfehlung eines Bekannten ihres Mannes Quartier in einer kleinen Pension im Bäderviertel genommen hätte, erübrigten sich alle weiteren Fragen, die Lilly Bär hätte stellen können. Die Pension war als ebenso preiswert bekannt wie die geschäftstüchtige Wirtin und

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