02_In einem anderen Buch
beobachten konnte. In einem kleinen
Nebenraum fand ich eine Dusche und eine Toilette und in
einem der Blechschränke entdeckte ich einen Schlafsack und
einen Waschbeutel.
Die wenigen Ecken und Winkel des Raumes hatte ich in
kaum zwanzig Minuten durchsucht. Bis zuletzt hoffte ich,
irgendwo einen vergessenen Kitschroman oder sonst etwas zu
finden, was mir zur Flucht helfen könnte, aber da war nichts.
Kein Bleistiftstummel und kein Fetzen Papier. Ich setzte mich
auf den einzigen Stuhl, schloss die Augen und versuchte mir die
Bibliothek oder ihre Beschreibung in meinem Jurisfiktion-Buch
vorzustellen, aber es gelang nicht. Ich sagte mir sogar den ersten
Absatz des Romans A Tale of Two Cities laut vor, den ich in der
Schule mal auswendig lernen musste. Aber ohne etwas zu lesen
nutzten mir meine Buchspringerqualitäten offenbar gar nichts.
Andererseits hatte ich nichts zu verlieren, und so versuchte ich
es mit jedem Zitat, Gedicht oder Prosastück von Ovid bis de la
Mare, das ich je auswendig gelernt hatte. Als mir nichts mehr
einfiel, ging ich zu Limericks über, und am Ende erzählte ich
sogar Bowdens Witze. Nichts. Nicht mal ein Flackern.
Ich kroch in den Schlafsack, legte mich auf den Boden und
schloss die Augen. Ich hoffte, dass Landen auftauchen würde,
damit ich das Problem mit ihm erörtern könnte. Aber dann
kam alles ganz anders. Der Ring von Miss Havisham, den ich
mir an den Finger gesteckt hatte, wurde plötzlich unglaublich
heiß, es ertönte ein forpisches Geräusch und eine hagere Gestalt
erschien neben mir.
Es war Miss Havisham, und sie sah ziemlich ärgerlich aus.
Noch ehe ich ihr sagen konnte, wie froh ich war, sie zu sehen,
zeigte sie mit dem Finger auf mich und erklärte: »Du hast eine
Menge Ärger, mein Mädel!«
»Ach, wirklich?«
Das war nicht die Art von Bemerkung, die Miss Havisham
von ihren Lehrlingen akzeptierte. Sie hatte wohl eher erwartet,
dass ich bei ihrem Erscheinen aufsprang, und so versetzte sie
mir mit ihrem Stock einen schmerzhaften Schlag auf das Knie.
»Au!« sagte ich, aber ich hatte begriffen und stand eilig auf.
»Wo kommen denn Sie plötzlich her?«
»Havishams kommen und gehen, wie es ihnen beliebt«, sagte
sie hoheitsvoll. »Warum hast du es mir nicht gesagt?«
»Ich – ich habe befürchtet, dass Sie es nicht billigen, wenn ich
ohne Ihre Erlaubnis in Büchern herumspringe«, sagte ich
verlegen, »besonders, wenn es um Poe geht.«
Ich erwartete eine Woge von Beschimpfungen, einen Vulkanausbruch, um es genauer zu sagen, aber der unterblieb. Miss
Havishams Empörung stammte aus einer ganz anderen Ecke.
»Es kümmert mich wenig«, erklärte Miss Havisham sehr von
oben herab, »was du in deiner Freizeit mit billigen Nachdrucken anstellst!«
»Oh«, sagte ich und versuchte aus ihren strengen Zügen zu
lesen, was ich wohl falsch gemacht haben könnte.
»Du hättest es mir sagen müssen!« erklärte sie und machte
einen bedrohlichen Schritt auf mich zu.
»Das mit dem Baby?« stammelte ich. Nein, das mit dem Cardenio, du Idiotin!«
»Cardenio?«
Man hörte ein leises Klirren. Es war jemand an der Tür. Miss
Havishams Ankunft war beobachtet worden. »Das sind bestimmt Chalk und Cheese«, sagte ich. »Springen Sie lieber hier
raus.«
»Kommt nicht in Frage!« erwiderte Miss Havisham. »Wir
gehen zusammen. Du bist zwar eine schreckliche Närrin, aber
ich bin für dich verantwortlich. Das Problem ist nur, drei Meter
dicker Beton ist etwas mühselig – ich muss uns herauslesen. Gib
mir schnell dein Reisebuch!«
»Das haben sie mir weggenommen.«
Die Tür öffnete sich, und Schitt-Hawse kam herein. Er grinste, als ob er gleich platzen wollte. »Sieh mal einer an!« sagte er.
»Wenn man einen von diesen Buchspringern einsperrt, hat man
fünf Minuten später schon zwei!«
Er musterte Miss Havishams altes Brautkleid und zog verblüffenderweise die richtigen Schlüsse. »Du meine Güte! Sind
Sie … Miss Havisham?«
Statt einer Antwort zog Miss Havisham ihre kleine Pistole
und feuerte in seine Richtung. Er quiekte erschrocken und
rettete sich mit einem Sprung durch die Tür. Stahl schlug auf
Stahl, und man hörte, wie die Riegel vorgelegt wurden.
»Wir brauchen ein Buch«, sagte Miss Havisham grimmig.
»Ganz egal, was – sogar ein Flugblatt würde genügen.«
»Hier ist nichts, Miss Havisham.«
Sie sah sich um. »Bist du sicher? Irgendwas muss es doch geben.«
»Ich habe alles durchsucht, es gibt nichts.«
Miss
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