02_In einem anderen Buch
ausstiegen, kam Lord Volescamper uns schon entgegen. Er war ein hochgewachsener Mann mit
grauem Haar und sehr leutselig. Er trug eine alte Tweedjacke
mit Fischgrätmuster und schwenkte eine Gartenschere wie
einen Kavalleriesäbel.
»Verdammte Brombeeren!« fluchte er lauthals und schüttelte
uns die Hände. »Sehen Sie mal, die Biester wachsen täglich fünf
Zentimeter. Haben Sie das gewusst? Verfluchte kleine Mistkerle, die alles überwuchern, was wir kennen und lieben – richtige
Anarchisten. Sie sind dieses Next-Mädchen, stimmt's? Ich
glaube, wir haben uns bei der Hochzeit meiner Nichte Gloria
kennen gelernt. Wen hat sie noch mal geheiratet?«
»Meinen Vetter Wilbur.«
»Ja, genau, jetzt fällt es mir wieder ein. War da nicht auch so
ein alter Trottel, der sich auf dem Tanzboden zum Narren
gemacht hat? Wissen Sie noch, wer das war?«
»Ich glaube, das waren Sie, Sir.«
Lord Volescamper dachte einen Augenblick nach und starrte
auf seine Füße. »Du meine Güte, war ich das wirklich? Ich
glaube, Sie haben Recht.«
»Das ist Bowden Cable, mein Partner.«
»How do you do, Mr Cable? Sie haben sich einen von diesen
neuen Griffin Sportinas gekauft, sehe ich. Wie finden Sie ihn?«
»Na ja, ich schaue zuerst immer da nach, wo ich ihn abgestellt habe, Sir.«
»Haha! Kommen Sie doch bitte herein. Victor hat Sie geschickt, nicht wahr?«
Wir folgten Volescamper in das verfallene Haus. Die Wände
der Eingangshalle waren mit zahllosen Jagdtrophäen, vor allem
ausgestopften Antilopenköpfen, geschmückt.
»Früher waren wir große Jäger«, erklärte Volescamper. »Aber
ich habe diese Familientradition nicht fortgesetzt. Hören Sie,
mein Vater war ganz verrückt darauf, Tiere zu schießen und
auszustopfen. Als er gestorben ist, hat er darauf bestanden, dass
man ihn ebenfalls ausstopfte. Sehen Sie, dort steht er, gleich
neben der Treppe.«
Bowden und ich betrachteten den verstorbenen Earl mit Interesse. Mit seinem Lieblingsgewehr in der Armbeuge und
seinem treuen Hund an der Seite starrte er mit leerem Blick aus
seiner Vitrine. Ich überlegte, ob man sich nicht vielleicht darauf
hätte beschränken sollen, einfach nur seinen Kopf auszustopfen
und auf eins dieser hölzernen Schilde zu nageln, aber ich wollte
nicht unhöflich sein.
»Er sieht ziemlich jung aus«, sagte ich.
»Aber ja! Er ist auch nur dreiundvierzig Jahre und acht Tage
alt geworden. Eine Antilopenherde hat ihn zu Tode getrampelt.«
»In Afrika?«
»Nein«, seufzte Volescamper wehmütig, »auf der A 30 in der
Nähe von Chard im Jahre 1934. Er hat den Wagen angehalten,
weil auf der Straße ein Bock mit einem besonders schönen
Geweih lag. Mein Vater ist ausgestiegen, um sich das Tier
genauer anzusehen … tja, und dann ist es passiert. Er hatte
überhaupt keine Chance. Die Herde kam aus dem Nichts.«
»Das tut mir leid.«
»Ironie des Schicksals«, sagte Lord Volescamper, während
Bowden einen diskreten Blick auf die Uhr warf. »Aber wissen
Sie, was wirklich verrückt war? Als die Herde verschwunden
war, war der herrliche Bock mit seinem prachtvollen Geweih
ebenfalls nicht mehr da.«
»Wahrscheinlich … wahrscheinlich ist er bloß betäubt gewesen«, erklärte Bowden.
»Ja, ja, so war's wohl«, sagte Volescamper geistesabwesend.
»Aber Sie sind ja nicht gekommen, um über meinen Vater zu
reden. Bitte folgen Sie mir!«
Und damit trabte er den Korridor zur Bibliothek hinunter.
Wir mussten rennen, um ihm zu folgen, aber etwaige Zweifel
hinsichtlich des Wertes der Volescamperschen Sammlungen
zerstreuten sich rasch. Die Türen zur Bibliothek waren aus
gehärtetem Stahl.
»Oh, ja«, sagte Volescamper, der meinen Blicken gefolgt war.
»Die gute alte Bibliothek ist schon ein paar Pfennige wert – da
treffe ich lieber die nötigen Vorkehrungen. Hören Sie, lassen Sie
sich von den Eichenpaneelen im Inneren nicht täuschen. Die
Bibliothek ist gebaut wie ein Banksafe.«
Das war nicht ungewöhnlich. Die Bodleiana war inzwischen
sicherer als Fort Knox – und Fort Knox beherbergte seinerseits
die Raritäten aus der Library of Congress. Wir traten ein, und
ich sah Bowdens Augen leuchten, als er die Manuskripte und
alten Bücher sah, die allerdings nur zum Teil geordnet in
Wandschränken standen. Mindestens ebenso viele waren auf
den Tischen gestapelt oder in allen möglichen Kisten verpackt.
»Sie haben den Cardenio also nicht erst vor kurzem gekauft?«
fragte ich und hatte plötzlich das Gefühl, dass
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