02_In einem anderen Buch
meine bisher so
ablehnende Haltung gegenüber der Entdeckung möglicherweise
voreilig war.
»Ach, du meine Güte! Natürlich nicht! Wir haben ihn allerdings erst vorgestern gefunden, als wir einen Teil der privaten
Bibliothek meines Urgroßvaters Bartholomew katalogisiert
haben. Ich wusste nicht mal, dass ich ihn hatte. Das ist Mr
Swaike, mein Sicherheitsberater.«
Ein kräftiger, untersetzter Mann mit humorlosem Gesichtsausdruck war hereingekommen. Er betrachtete mich
misstrauisch, als Volescamper uns vorstellte. Dann legte er ein
Bündel grob geschnittener, in Leder gebundener Manuskriptseiten vor uns auf den Tisch.
»Mit welcher Art Sicherheitsfragen beschäftigen Sie sich, Mr
Swaike?« fragte Bowden.
»Personenschutz und Versicherungsfragen. Diese Bibliothek
ist weder katalogisiert noch versichert. Ein wertvolles Objekt für
Verbrecher, trotz der zahlreichen Sicherheitsmaßnahmen. Der
Cardenio ist nur eins von mehreren Büchern, die ich innerhalb
der gesicherten Bibliotheksräume noch in einem besonderen
Safe aufbewahre.«
»Dafür habe ich größtes Verständnis, Mr Swaike«, sagte
Bowden.
Ich setzte mich auf einen Stuhl und betrachtete das Manuskript. Auf den ersten Blick sah es nicht schlecht aus, deshalb
zog ich mir ein paar dünne weiße Baumwollhandschuhe an,
eine Maßnahme, die mir gar nicht erst in den Sinn gekommen
war, als ich Mrs Hathaway34s Cardenio prüfte. Ich untersuchte
die erste Seite. Die Handschrift ähnelte der von Shakespeare
durchaus, und das Papier war handgemacht. Ich schnupperte
an der Tinte und am Papier, aber auch das ergab keinen Anlass
zum Zweifel. Es sah alles vollkommen echt aus, aber ich hatte
schon einige gute Fälschungen historischer Manuskripte gesehen. Es gab auch genügend Fälscher, die sich mit der Elisabethanischen Geschichte, Grammatik und Rechtschreibung
hinreichend auskannten, aber keiner hatte je den Witz und
Charme des Schwans vom Avon besessen. Victor pflegte immer
zu sagen, eine Shakespearefälschung sei schon deshalb unmöglich, weil die technische Raffinesse, die dazu nötig sei, jede
literarische Leistung von vornherein ausschließe. Die Hand
erdrücke gewissermaßen das Herz. Aber als ich die zweite Seite
aufschlug und das Dramatis personae las, rührte sich etwas in
meinem Inneren. Ich hatte Schmetterlinge im Bauch. Ich hatte
schon fünfzig oder sechzig Cardenios gelesen, aber diesmal …
Ich schlug die dritte Seite auf und las den Eingangsmonolog:
»Kennst du, o Lieb', die Schmerzen, die ich leide –«
»Es ist so eine Art spanisches Romeo und Julia für die reifere
Jugend, aber mit ein paar Witzen und Happy-End«, erklärte
Volescamper. »Hören Sie, möchten Sie vielleicht etwas Tee?«
»Was? Ja, vielen Dank.«
Volescamper teilte uns mit, dass er uns aus Sicherheitsgründen einschließen müsse. Wir könnten aber jederzeit klingeln,
wenn wir etwas bräuchten. Die Stahltüren schlossen sich, und
wir lasen mit zunehmendem Interesse, was Cardenio seinem
Publikum über seine verlorene Geliebte Luscinda zu erzählen
hatte. Nach ihrer Ehe mit dem tückischen Ferdinand, sagte er,
sei er in die Berge geflohen und zum elenden, irrenden Ritter
geworden.
»Gott im Himmel«, murmelte Bowden, der mir über die
Schulter sah, ein Gefühl, das ich voll und ganz teilte. Das Stück,
Fälschung oder nicht, war ganz ausgezeichnet. Nach dem
Eingangsmonolog folgte eine Rückblende, wo der noch nicht
herumirrende Cardenio und Luscinda sich eine Reihe leidenschaftlicher Briefe schreiben. Die Szene sollte wohl mit geteilter
Bühne gespielt werden, also eine Art elisabethanischer split
screen à la Rock Hudson und Doris Day. Luscinda auf der
einen, Cardenio auf der anderen Seite, und jeder reagiert auf
den anderen. Es war ziemlich witzig. Die Welt wäre ärmer
gewesen ohne diesen Text. Wir lasen weiter. Cardenio wollte
Luscinda heiraten, doch dann bestimmte ihn der Herzog zum
Gefährten seines Sohnes Ferdinand, der hoffnungslos in Dorothea verliebt zu sein glaubte, sich dann aber plötzlich für Lus-cinda zu interessieren begann –
»Was denken Sie?« fragte ich Bowden, als wir etwa die Hälfte
hinter uns hatten.
»Erstaunlich! Ich habe noch nie so etwas gesehen!«
»Ist es echt?«
»Könnte sein, aber bei so etwas irrt man sich leicht. Den Teil,
wo Cardenio entdeckt, dass er getäuscht worden ist, und Ferdinand plant, Luscinda zu heiraten, werde ich exzerpieren. Dann
können wir ihn im Büro mit dem
Weitere Kostenlose Bücher