02_In einem anderen Buch
ich vorbeiging, plauderten die
Zuschauer über das Wetter, den vorhergehenden Fall, meine
Kleidung und die Einzelheiten meines Falles, von denen sie, wie
mir schien, nicht die geringste Vorstellung hatten. Am anderen
Ende des Saales stand ein kleiner Tisch auf einem sehr niedrigen, gleichfalls überfüllten Podium und dahinter saß der Untersuchungsrichter auf einem hohen Stuhl, der ihn wohl größer
erscheinen lassen sollte. Er schwitzte erheblich.
Hinter ihm drängten sich Gerichtsbeamte und Schreiber, die
untereinander und mit den Zuschauern sprachen. Neben dem
Podium stand der Mann mit den tief deprimierten Gesichtszügen, der zu Hause in Swindon an meine Türe geklopft und mich
zu einem unfreiwilligen Geständnis gebracht hatte. Er hatte eine
eindrucksvolle Phalanx von amtlich aussehenden Papieren im
Arm. Das musste Matthew Hopkins, der Staatsanwalt, sein.
Snell stand neben ihm, aber als er mich sah, kam er zu mir
und flüsterte mir ins Ohr: »Das ist nur eine formale Anhörung,
um zu sehen, ob ein Verfahren notwendig ist. Mit ein bisschen
Glück können wir erreichen, dass Ihr Fall an ein etwas freundlicheres Gericht überwiesen wird. Die Zuschauer können Sie
ignorieren. Die sind nur als erzählerisches Hilfsmittel da, um
die allgemeine Paranoia zu steigern, und haben mit Ihrem Fall
nichts zu tun. Wir werden alle Beschuldigungen abstreiten.«
»Herr Untersuchungsrichter«, sagte Snell, als wir vor das Podium traten. »Mein Name ist Akrid S., ich bin der Pflichtverteidiger von Thursday N. in der Strafsache Nr. 142857.«
Der Untersuchungsrichter sah mich an. Dann zog er seine
Uhr hervor und sagte: »Sie hätten vor einer Stunde und fünf
Minuten erscheinen sollen.«
Aus der Menge erhob sich aufgeregtes Gemurmel. Snell öffnete den Mund, um zu antworten, aber ich sprach zuerst.
»Ich weiß«, sagte ich, da ich als junges Mädchen eine Menge
Kafka gelesen hatte und dem Verfahren eine etwas andere
Wendung geben wollte. »Es ist meine Schuld. Ich bitte das
Gericht um Vergebung.«
Der Untersuchungsrichter verstand mich zunächst gar nicht
und wiederholte noch einmal zur Unterhaltung der Menge: »Sie
hätten schon vor einer Stunde und … Was haben Sie gerade
gesagt?«
»Ich habe gesagt, dass es mir leidtut, und dass ich Sie um
Entschuldigung bitte, Sir«, sagte ich.
»Oh«, sagte der Untersuchungsrichter, während es im Saal
still wurde. »Könnten Sie in diesem Falle bitte wieder gehen
und, sagen wir, in einer Stunde und fünf Minuten zurückkommen, damit Sie ohne eigene Schuld zu spät dran sind?«
Die Zuschauer klatschten Beifall, obwohl ich nicht recht
wusste, warum.
»Wie Euer Ehren wünschen«, erwiderte ich. »Wenn es das
Gericht so haben möchte, werde ich mich danach richten.«
»Sehr gut«, flüsterte Snell.
»Oh!« sagte der Untersuchungsrichter erneut. Er schien verwirrt und beriet sich kurz mit den Gerichtsbeamten, dann
starrte er mich an und sagte: »Das hohe Gericht hat beschlossen, dass Sie eine Stunde und fünf Minuten zu spät kommen
sollen!«
»Aber ich bin doch schon eine Stunde und fünf Minuten zu
spät dran!« erklärte ich und erregte damit spärlichen Beifall im
Saal.
»Damit sind Sie den Anordnungen des Gerichts nachgekommen und wir können mit der Verhandlung beginnen.«
»Einspruch!« rief Hopkins.
»Abgelehnt«, erwiderte der Untersuchungsrichter und nahm
ein abgegriffenes kleines Notizheft von seinem Tisch. Er schlug
es auf, las etwas und gab das Heft an einen der Protokollführer
weiter.
»Ihr Name ist Thursday N. Sie sind Zimmermaler?«
»Nein, sie –« versuchte Snell einzuwenden, aber ich unterbrach ihn.
»Ja«, sagte ich. »Ich bin Zimmermaler gewesen, Euer Ehren.«
Verblüfftes Schweigen herrschte im Saal, was dadurch besonders akzentuiert wurde, dass im Hintergrund jemand »Bravo!« rief, ehe ihm ein anderer Zuschauer einen Puff gab. Der
Untersuchungsrichter sah mich genauer an.
»Gehört das zur Sache?« fragte Hopkins den Vorsitzenden.
»Ruhe!« brüllte der Untersuchungsrichter und fuhr dann
sehr langsam und mit großem Ernst fort: »Wollen Sie mir
sagen, dass Sie zu irgendeinem Zeitpunkt einmal Zimmermaler
gewesen sind?«
»In der Tat, Euer Ehren. Als ich die Schule abgeschlossen
hatte, aber noch nicht studierte, habe ich zwei Monate lang bei
einem Malermeister gearbeitet. Ich glaube, man kann sagen,
dass ich tatsächlich – wenn auch nicht auf Dauer – ein Zimmermaler gewesen bin.«
Erneut gab es Beifall
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