02_In einem anderen Buch
Gentleman
aufsteigt, gab Dickens Gelegenheit, seine Leser mit vielen
interessanten Figuren bekannt zu machen: Da gibt es Pips
Schwager, den einfachen Hufschmied Joe Gargery; den
Sträfling Abel Magwitch, dem Pip gleich im ersten Kapitel
die Ketten abnimmt; den Rechtsanwalt Jaggers und Pips
Freund Herbert Pocket, der ihm beibringt, wie man sich in
Londons feiner Gesellschaft benimmt. Aber der eigentliche
Star ist Miss Havisham, die sitzengelassene Braut, die ihr
ganzes Leben so verbringt, als ob sie jeden Tag Hochzeit
hätte. Sie ist eine der eindrucksvollsten Figuren von Dickens.
MILLION DE FLOSS
– Große Erwartungen. Ein Roman an der
Schwelle des 20. Jahrhunderts
Ich befand mich in einem geräumigen, dunklen Saal, der nach
Schimmel und Staub roch. Die Fensterläden waren geschlossen,
und die wenigen flackernden Kerzen trugen eher noch zur
Düsternis bei. In der Mitte des Raumes war eine ehemalige
Hochzeitstafel gedeckt, die aber nur noch aus staubigen Tellern
und blind gewordenem Silber bestand. In den Schüsseln waren
vertrocknete Speisereste zu sehen, und in der Mitte des Tisches
stand eine große, eingestürzte Hochzeitstorte, die von dichten
Spinnennetzen bedeckt war. Ich hatte die Szene schon mehrfach
gelesen, aber wenn man sie konkret vor sich sah, war das doch
noch anders – irgendwie farbiger. Und der modrige Geruch
kam beim Lesen auch nicht so raus.
Miss Havisham, Estella und Pip befanden sich auf der anderen Seite des Raumes. Ich blieb einfach still stehen und sah
ihnen zu. Ein Kartenspiel war gerade zu Ende gegangen, und
Miss Havisham in ihrem abgetragenen Brautkleid schien zu
einer Entscheidung kommen zu wollen.
»Wann werde ich dich wieder hier haben?« fragte sie laut.
»Ich will mal überlegen.«
»Heute ist Mittwoch, Ma'am –« begann Pip, wurde aber sofort zum Schweigen gebracht.
»Lass das!« sagte Miss Havisham. »Ich weiß nichts von den
Tagen der Woche, ich weiß nichts von den Wochen des Jahres.
Komm in sechs Tagen wieder. Hörst du?«
»Ja, Ma'am.«
Miss Havisham seufzte tief und wandte sich an das junge
Mädchen, das Pip die meiste Zeit angestarrt hatte; sein Unbehagen in der fremden Umgebung schien sie äußerst zu amüsieren.
»Estella, bring ihn hinunter. Gib ihm etwas zu essen. Lass ihn
herumstreifen und sich umsehen, während er isst. Geh, Pip.«
Die beiden jungen Leute verließen den verdunkelten Raum,
und ich sah zu, wie Miss Havisham erst auf den Boden starrte
und dann auf die halb gefüllten Truhen mit ihrer vergilbten
Aussteuer. Sie zog ihren Schleier herunter, fuhr sich mit den
Fingern durch ihr ergrautes Haar und streifte ihre Brautschuhe
ab. Sie sah sich vorsichtig um, prüfte, ob die Tür geschlossen
war, und öffnete dann eine Kommode, die zu meiner Überraschung nicht mit Gegenständen ihres kümmerlichen Lebens,
sondern mit erstaunlichen Luxusartikeln gefüllt war, die ihr
Dasein offenbar erträglicher machen sollten. Unter anderem
sah ich einen Sony Walkman, einen Stapel National Geographics, ein paar Romane von Daphne Farquitt und einen
Tischtennisschläger, an dem ein kleiner Ball mit einem Gummiband festgemacht war. Sie wühlte noch ein bisschen tiefer
und zog ein paar Turnschuhe aus der Schublade, die sie mit
einem Seufzer der Erleichterung anzog. Sie wollte gerade die
Schnürsenkel festziehen, als ich mein Gewicht verlagerte und
dabei an einen kleinen Tisch stieß. Miss Havisham hob den
Kopf und starrte in meine Richtung. Ihre Augen versuchten die
Dunkelheit zu durchdringen.
»Wer ist da?« fragte sie scharf. »Bist du das, Estella?«
Mich weiter zu verstecken, schien mir keine gute Idee, deshalb trat ich sogleich aus dem Schatten. Sie musterte mich mit
kritischen Augen.
»Wie heißt du, mein Kind?« fragte sie streng.
»Thursday Next, Ma'am.«
»Ah!« sagte sie. »Das Next-Mädel. Hast ganz schön lange gebraucht, um den Weg hierher zu finden, nicht wahr?«
»Tut mir leid«, sagte ich.
»Das lohnt sich nicht, Mädel. Leidtun ist Zeitverschwendung,
das kannst du mir glauben. Wenn du dich damals ein bisschen
mehr angestrengt hättest, als du Mrs Nakijima in Haworth
begegnet bist, hättest du längst hier bei uns in der Jurisfiktion
sein können! Aber – ach, da nutzen ja keine Ermahnungen!«
»Ich wusste ja nicht –«
»Ich nehme nur selten Lehrlinge«, sagte sie und überging
meinen Einwand vollkommen, »aber man wollte dich der
Herzkönigin zuteilen, und das konnte ich natürlich nicht
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