02_In einem anderen Buch
Raum
war nur spärlich möbliert. Ein Waschtrog stand in der Mitte,
und nach den Geräuschen zu urteilen, schien im Nebenzimmer
gerade eine politische Versammlung abgehalten zu werden. Die
Tür öffnete sich, eine Frau kam aus dem Gerichtssaal, glättete
ihre Röcke, machte einen Knicks und kehrte an ihre Wäsche
zurück.
»Guten Morgen, Miss Havisham«, sagte sie höflich.
»Guten Morgen, Esther«, erwiderte diese. »Ich hab dir was
mitgebracht.« Miss Havisham gab ihr eine Tüte mit Lakritzen
und fragte: »Sind wir zu früh dran?«
Hinter der Tür ertönte brüllendes Gelächter, das sich alsbald
in aufgeregte Diskussionen auflöste.
»Es wird nicht mehr lange dauern«, sagte die Waschfrau.
»Snell und Hopkins sind beide schon drin. Möchten Sie vielleicht Platz nehmen?«
Miss Havisham setzte sich, aber ich blieb lieber stehen.
»Ich hoffe, Snell weiß, was er tut«, murmelte Miss Havisham
düster. »Der Untersuchungsrichter ist eine etwas unbekannte
Größe.«
Der Beifall und das Gelächter im Raum nebenan hörten auf
und es wurde plötzlich ganz still. Man hörte, wie jemand an der
Klinke hantierte. Eine tiefe Stimme auf der anderen Seite der
Tür sagte: »Ich wollte Sie nur darauf aufmerksam machen, dass
Sie sich heute – es dürfte Ihnen noch nicht zu Bewusstsein
gekommen sein – des Vorteils beraubt haben, den ein Verhör
für den Verhafteten in jedem Falle bedeutet.«
Ich sah Miss Havisham besorgt an, aber sie schüttelte nur
den Kopf, als wolle sie mir damit sagen, dass es keinen Grund
gebe, mir Sorgen zu machen.
»Ihr Lumpen«, rief eine andere Stimme, immer noch hinter
der Tür. »Ich schenke euch alle Verhöre!«
Die Tür öffnete sich, und ein junger Mann mit schwarzem
Anzug und rotem Gesicht stürzte vor Wut zitternd aus dem
Gerichtssaal und rannte die Treppe hinunter. Der Mann, der
mit ihm gesprochen hatte, der Untersuchungsrichter, wie ich
vermutete, schüttelte bedauernd den Kopf und die Versammelten begannen über Josef K.s Ausbruch zu reden. Der Richter,
ein dicker, schnaufender Mann, sah mich an und fragte: »Sie
sind Thursday N.?«
»Ja, Euer Ehren.«
»Sie kommen zu spät«, sagte er und schloss mir die Tür vor
der Nase.
»Keine Sorge, mein Kind«, sagte Miss Havisham freundlich.
»Das sagt er immer. Damit will er dich einschüchtern.«
»Das ist ihm gelungen. Kommen Sie nicht mit mir rein?«
Sie schüttelte den Kopf und legte mir die Hand auf den Arm.
»Hast du den Prozess gelesen?«
Ich nickte.
»Dann weißt du ja, was dich erwartet. Mach's gut, meine Liebe.«
Ich bedankte mich, holte tief Luft, griff nach der Klinke und
trat mit heftig pochendem Herzen in den Gerichtssaal.
18.
Der Prozess des Fräulein N.
Der Prozess, Kafkas meisterhafte Darstellung bürokratischen Verfolgungswahns, blieb zu seinen Lebzeiten ungedruckt. Ja, der später so berühmte Autor, der sein relativ
kurzes Leben als unbekannter Versicherungsangestellter
verbrachte, hinterließ dieses und andere Manuskripte einem
engen Freund mit der Maßgabe, sie zu vernichten. Wie viele
andere große Schriftsteller, fragt man sich unwillkürlich,
mögen Meisterwerke zu Papier gebracht haben, die nach ihrem Tod tatsächlich verbrannt worden sind? Wenn Sie das
wissen wollen, müssen Sie eins der sechsundzwanzig Tiefgeschosse der Großen Bibliothek aufsuchen, wo die unveröffentlichten Manuskripte aufbewahrt werden. Unter zahllosen selbstgefälligen Schmierereien und manchen ehrgeizigen, aber gescheiterten Prosaversuchen finden Sie hier etliche Werke von reinstem Genie. Um das größte Nicht-Werk
der Nicht-Nonfiction zu finden, müssen Sie sich in das dreizehnte Untergeschoss zur Kategorie MCML, Regal
2919/B12 begeben, wo Sie ein seltener und köstlicher Leckerbissen erwartet: Bunyans Fußabstreifer von John
McSquurd. Aber seien Sie vorsichtig! Niemand sollte allein
in den Brunnen der Manuskripte hinabsteigen …
DER WARRINGTON-KATER
– JurisfiktionFührer zur Großen Bibliothek
Der Gerichtssaal war gerammelt voll mit Menschen in dunklen
Anzügen, die ununterbrochen redeten und gestikulierten.
Knapp unter der Decke lief eine Galerie um den Raum, die
gleichfalls vollständig von redenden und lachenden Leuten
besetzt war. Die Luft war stickig und dumpf. Zwischen den
durcheinander wimmelnden Menschen war gerade noch ein
schmaler Weg frei, und ich bewegte mich langsam vorwärts.
Die Menge schloss sich hinter mir wieder und drängte mich
geradezu vorwärts. Während
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