02 - Keiner werfe den ersten Stein
verwies sie an das Krankenhaus ganz in der Nähe.
Irene Sinclair sprang bestürzt auf, als sie in den Warteraum des Krankenhauses traten.
»Er wollte keine Polizei!« rief sie protestierend. »Woher wissen Sie - Was? Hat der Arzt Sie angerufen?«
»Wir waren bei Ihnen zu Hause.«
Lynley ging mit ihr zu einer der Bänke, die an den Wänden standen. Der Raum, der zur Notaufnahme gehörte, war voller Menschen, die auf Behandlung warteten.
»Was ist denn überhaupt passiert?« fragte Lynley, nachdem sie sich gesetzt hatten.
Irene Sinclair schüttelte den Kopf. »Robert ist vorhin überfallen und verprügelt worden. Im Theater.«
»Was hat er denn so spät dort noch getan?«
»Er wollte sich seinen Text noch einmal ansehen. Wir haben morgen eine zweite Leseprobe, und er sagte, er wolle ein Gefühl dafür bekommen, wie er auf der Bühne klingt.«
Lynley sah ihr an, daß sie die Geschichte selbst nicht glaubte. »War er denn auf der Bühne, als er angegriffen wurde?«
»Nein. Er war in seine Garderobe gegangen, um einen Schluck zu trinken. Irgend jemand schaltete die Lichter aus und überfiel ihn dort. Hinterher schleppte er sich zu einem Telefon. Meine Nummer war die einzige, die ihm einfiel.«
Es hörte sich an, als wolle sie damit ihre Anwesenheit entschuldigen.
»Nicht der Notruf?«
»Er wollte keine Polizei.« Sie sah ihn voll ängstlicher Besorgnis an. »Aber ich bin froh, daß Sie gekommen sind. Vielleicht können Sie ihm Vernunft beibringen. Es liegt doch auf der Hand, daß er das nächste Opfer werden sollte.«
Lynley stand auf, holte sich einen der Plastikstühle und setzte sich so, daß sie vor den Blicken möglicher Neugieriger abgeschirmt war. »Warum?« fragte er.
Die Frage schien Irene zu verwirren, doch Lynley hatte den Eindruck, daß sie die ganze Zeit Theater spielte, um vor ihm und Havers nicht mit der Wahrheit herausrücken zu müssen. »Wie meinen Sie das?« fragte sie. »Was könnte sonst der Grund sein? Der Kerl hat ihn blutig geschlagen. Er hat zwei Rippenbrüche, sein Gesicht ist völlig verschwollen, und er hat einen Zahn verloren. Das kann doch nur der Mensch gewesen sein, der Joy getötet hat.«
»Aber die Verfahrensweise entspricht nicht der des Killers, den wir suchen«, meinte Lynley. »Wir haben es mit einem Mann, vielleicht auch mit einer Frau zu tun, der oder die mit dem Messer tötet, nicht mit Fäusten. Mir macht es nicht den Eindruck, als hätte der Schläger die Absicht gehabt, Ihren geschiedenen Mann zu töten.«
»Ja, aber warum dann dieser brutale Überfall? Was wollen Sie mit Ihrer Bemerkung sagen?« Sie richtete sich kerzengerade auf, als empfände sie Lynleys Worte als einen Angriff, dem sie mit Protest begegnen mußte.
»Ich denke, die Antwort darauf wissen Sie selbst am besten. Ich glaube, Sie haben mir über diesen Zwischenfall längst nicht alles erzählt, was Sie wissen. Sie schützen Ihren geschiedenen Mann. Warum? Womit hat er soviel Loyalität verdient? Er hat Sie doch immer wieder verletzt. Er behandelt Sie mit einer Verachtung, die er nicht einmal zu verbergen sucht. Mrs. Sinclair, hören Sie -«
Sie hob abwehrend eine Hand. Ihr gequältes Gesicht sagte ihm, daß sie nicht mehr versuchte, ihm etwas vorzumachen. »Bitte! Gut, Sie haben recht. Es reicht. Er war mit einer Frau zusammen. Ich habe keine Ahnung, wer es war. Er wollte es mir nicht sagen. Als ich ins Theater kam, war er noch - er hatte sich noch nicht ...« Sie stockte und setzte noch einmal an. »Er schaffte es nicht, sich allein anzuziehen.«
Lynley hörte ihr ungläubig zu. Wie mußte es für sie gewesen sein, zu ihm zu gehen, ihn zu trösten, ihm zu helfen und zu wissen, daß er kurz zuvor mit einer anderen Frau zusammen gewesen war? »Ich muß ehrlich gestehen, es macht mir große Mühe zu begreifen, wieso Sie einem solchen Mann gegenüber immer noch so loyal sind. Obwohl dieser Mann nicht einmal davor zurückschreckte, Sie mit Ihrer eigenen Schwester zu hintergehen?«
Er dachte bei seinen Worten auch an das Gespräch, das er nach der Ermordung ihrer Schwester auf Westerbrae mit ihr geführt hatte.
»Sie haben mir auch über die Nacht, in der Ihre Schwester getötet wurde, nicht alles erzählt, nicht wahr? Selbst da versuchten Sie, ihn zu schützen. Warum, Mrs. Sinclair?«
Sie schloß einen Moment lang die Augen. »Er ist der Vater meiner Kinder«, antwortete sie.
»Sie meinen, wenn Sie ihn schützen, dann schützen Sie die Kinder?«
»Ja.«
Genau wie John Darrow. Aber Lynley
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