02 - Keiner werfe den ersten Stein
verschließen konnte. Wie sie erklären? Wie sie mit den Informationen in Einklang bringen, die die Laborbefunde aus Strathclyde über Joy Sinclair geliefert hatten? Und wie Iren!Sinclair beibringen, daß sie, wenn sie durch ihre Zusammenarbeit mit der Polizei dazu beitrug, die Unschuld ihres Mannes zu beweisen, gleichzeitig helfen würde, ihren Vetter Rhys des Mordes zu überführen.
»Wollen Sie uns helfen?« fragte er.
Lynley verstand ihr Dilemma. Sie mußte sich entscheiden: Entweder sie fuhr fort, um ihrer Kinder willen, Robert Gabriel zu schützen, oder sie entschloß sich zur aktiven Teilnahme an einem Plan, der vielleicht zur Entlarvung des Mörders ihrer Schwester führen würde. Wenn sie die erste Möglichkeit wählte, würde sie für immer darüber im Ungewissen bleiben, ob sie einen Mann schützte, der wahrhaftig unschuldig war, oder ob sie vielleicht den Schuldigen deckte. Entschied sie sich für die zweite Möglichkeit, so war damit ein Akt der Vergebung verbunden; die Bereitschaft, ihrer Schwester das Unrecht zu verzeihen, das sie an ihr begangen hatte. Es war eine Wahl zwischen einem Lebenden und einer Toten.
Lynley konnte nur hoffen, daß Irene Sinclair mittlerweile begriffen hatte, daß ihre Ehe mit Gabriel schon seit Jahren an seiner unverbesserlichen Untreue gekrankt hatte und daß ihre Schwester in dem Drama ihrer Ehe nur eine Nebenrolle gespielt hatte.
Irene richtete sich auf. Ihre Finger hatten feuchte Flecken auf dem Leder ihrer Handtasche hinterlassen. Ihre Stimme gehorchte ihr nicht gleich, aber dann sagte sie: »Ich helfe Ihnen. Was muß ich tun?«
»Übernachten Sie heute im Haus Ihrer Schwester in Hampstead. Sergeant Havers begleitet Sie und bleibt bei Ihnen.«
16
Als Lynley am nächsten Morgen gegen halb elf zu St. James kam und Deborah ihm die Tür öffnete, sah er gleich an ihrem zerzausten Haar, der fleckigen Schürze, die sie über der ausgebleichten Jeans und der karierten Bluse trug, daß er sie mitten aus der Arbeit gerissen hatte. Dennoch strahlte sie, als sie ihn sah.
»Endlich eine Abwechslung! Gott sei Dank! Ich hocke seit zweit Stunden in meiner Dunkelkammer, und außer Peach und Alaska leistet mir keiner Gesellschaft. Die beiden sind ja ganz putzig, aber zu einem Gespräch reicht's eben doch nicht. Simon ist zwar in seinem Labor, aber du weißt ja, daß er total verstummt, wenn er sich auf seine hochwissenschaftlichen Pingeligkeiten konzentriert. Komm rein. Ich bin heilfroh, daß du da bist. Vielleicht kannst du ihn wenigstens zu einer Tasse Kaffee überreden.«
Sie wartete, bis er Mantel und Schal abgelegt hatte, dann berührte sie leicht seine Schulter. »Du siehst müde aus, Tommy. Geht's dir nicht gut? Kann ich irgendwas ...? Ich weiß von den andren, was los ist, und würde dir so gern was Gutes tun. Du siehst aus, als hättest du überhaupt nicht geschlafen. Soll ich Vater bitten, daß er - Möchtest du -?«
Sie biß sich auf die Lippen. »Lieber Gott, ich rede wie eine stammelnde Idiotin.«
Lynley lachte liebevoll, strich ihr eine ihrer widerspenstigen roten Locken hinters Ohr und folgte ihr zur Treppe.
»Simon hat vorhin einen Anruf von Jeremy Vinney bekommen«, berichtete sie, während sie nach oben gingen.
»Worauf er in eine seiner langen, mysteriösen Meditationen verfiel. Und keine fünf Minuten später hat Helen angerufen.«
Lynley blieb auf der Treppe stehen. »Helen ist gar nicht hier?«
Obwohl er sich alle Mühe gegeben hatte, unbeteiligt zu klingen, wußte Deborah sofort, was hinter der Frage stand. Sie drehte sich um und sah ihn teilnahmsvoll an.
»Nein, sie ist nicht hier, Tommy. Ihretwegen bist du gekommen, nicht wahr?« Ohne auf seine Antwort zu warten, fügte sie hinzu: »Komm mit nach oben und sprich mit Simon. Er kennt Helen schließlich besser als jeder andere.«
St. James kam ihnen entgegen, als sie in den Arbeitsraum traten, in der einen Hand eine Fachzeitschrift, in der anderen, recht makaber, ein Glas mit einem in Formaldehyd konservierten menschlichen Finger.
»Bereitest du eine Produktion von Titus Andronicus vor?« fragte Deborah lachend. Sie nahm ihm Glas und Zeitschrift aus der Hand, drückte ihm einen raschen Kuß auf die Wange und sagte: »Ich hab dir Tommy mitgebracht, Schatz.«
Lynley kam ohne Umschweife auf das, was ihm am Herzen lag. Er bemühte sich, sachlich zu sprechen, als ginge es ihm nur um seinen Fall, aber er merkte selbst, daß es ihm nicht gelang. »St. James, wo ist Helen? Seit gestern abend rufe ich
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