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02 - Keiner werfe den ersten Stein

02 - Keiner werfe den ersten Stein

Titel: 02 - Keiner werfe den ersten Stein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elizabeth George
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sich nur gedemütigt und dachte voll Entsetzen und Scham daran, daß Helen Clyde Lynley vielleicht berichten würde, in was für Verhältnissen sie lebte.
    »Vielen Dank, das ist sehr nett«, antwortete Helen freundlich, »aber ich bin im Augenblick nicht hungrig.« Sie lächelte Barbara zu, aber es war nur ein unsicheres Bemühen.
    An dem mühsamen Lächeln sah Barbara, wie schlecht es Helen ging, und sie vergaß ihre eigene Verlegenheit. »Ich will ihr nur rasch ihr Essen geben, Helen«, sagte sie. »Das Wohnzimmer ist da drüben, wenn Ihnen die Unordnung nichts ausmacht.«
    Sie wollte nicht glauben, daß Helen bereits von den Plänen wußte, die in Kraft gesetzt worden waren, um eine Verhaftung noch in dieser Nacht zu ermöglichen. Sie wollte nicht glauben, daß dies überhaupt der Grund für diesen Besuch sein könnte. Dabei wußte sie jedoch die ganze Zeit, daß es gar nicht anders sein konnte. Sie und Helen Clyde bewegten sich in verschiedenen Welten. Ein spontaner Freundschaftsbeweis war dies sicher nicht.
    Als Barbara wenige Minuten später ins Wohnzimmer trat, kam Helen sofort auf ihr Anliegen. Sie hockte nervös auf der Kante des durchgesessenen Sofas, den Blick auf die gegenüberliegende Wand gerichtet, wo eine Fotografie von Barbaras jüngerem Bruder hing, und sobald Barbara ins Zimmer kam, stand sie auf.
    »Ich fahre heute abend mit Ihnen.« Sie machte eine kleine, halb verlegene Handbewegung. »Tut mir leid, daß ich so unhöflich war, aber schöne Worte ändern auch nichts.«
    Zu lügen schien sinnlos. »Woher wissen Sie es?« fragte Barbara.
    »Ich habe vor ungefähr einer Stunde bei Tommy angerufen. Denton sagte mir, daß er heute abend eine Überwachung hat. Aber Tommy macht schon lange keine Überwachungsdienste mehr, das weiß ich. Da habe ich mir den Rest zusammengereimt.« Sie lächelte schwach und breitete hilflos die Hände aus. »Hätte ich gewußt, wo die Überwachung stattfinden soll, wäre ich einfach auf eigene Faust dorthingefahren. Aber ich weiß es nicht. Und Denton konnte es mir auch nicht sagen. Als ich im Yard anrief, konnte oder wollte man mir dort auch keine Auskunft geben. Darum bin ich zu Ihnen gekommen. Und wenn Sie mich nicht mitnehmen wollen, werde ich Ihnen einfach folgen.« Sie senkte die Stimme. »Es tut mir wirklich ungeheuer leid, Barbara. Ich weiß, in welche Situation ich Sie damit bringe. Tommy wird wütend sein. Auf uns beide.«
    »Warum tun Sie es dann?«
    Helens Blick wanderte wieder zu der Fotografie von Barbaras Bruder. Es war ein altes Foto aus der Schule, nicht sehr gelungen, aber es zeigte Tony so, wie Barbara ihn in Erinnerung hatte, strahlend über das ganze sommersprossige Gesicht, das dichte Haar wirr und zerzaust, vorn eine Zahnlücke.
    »Nach - nach allem was geschehen ist, muß ich dabei sein«, erklärte Helen. »Es ist ein Abschluß. Ich brauche ihn. Ich habe das Gefühl, daß ich mit mir selbst nur ins reine kommen kann - daß ich mir meine eigene Blindheit nur verzeihen kann -, wenn ich dabei bin, wenn sie ihn festnehmen.«
    Helen richtete ihren Blick wieder auf Barbara. Ihr Gesicht war sehr bleich. Sie sah beinahe durchsichtig aus. »Ich kann Ihnen nicht beschreiben, Barbara, was für ein Gefühl es ist zu wissen, daß er mich benutzt hat; zu wissen, daß ich mich gegen Tommy wandte, der doch nichts anderes wollte, als mir die Augen öffnen.«
    »Wir haben gestern abend bei Ihnen angerufen. Der Inspector hat den ganzen Tag versucht, Sie zu erreichen. Er macht sich große Sorgen.«
    »Das tut mir leid, ich war nicht - ich konnte ihm nicht in die Augen sehen.«
    »Nehmen Sie es mir nicht übel, wenn ich es sage«, bemerkte Barbara zögernd, »aber ich glaube nicht, daß es dem Inspector auch nur einen Funken Genugtuung gebracht hat, in diesem Fall recht behalten zu haben. Er könnte sich nie auf Ihre Kosten freuen.«
    Sie erwähnte nichts von ihrer Besprechung mit Lynley am Nachmittag, seinen rastlosen Wanderungen durch das Zimmer, während sie das Überwachungsteam zusammengestellt hatten, seinen zahlreichen Anrufen in Helens Wohnung, bei ihrer Familie in Surrey, bei den St. James'. Sie erzählte ihr nichts davon, wie seine Stimmung sich von Minute zu Minute mehr verdüstert hatte, wie er jedesmal wie ein Wahnsinniger zum Telefon gestürzt war, wenn es geläutet hatte.
    »Also, nehmen Sie mich mit?« fragte Helen.
    Barbara wußte, daß die Frage reine Formalität war. »Ich wüßte nicht, wie ich Sie zurückhalten sollte«, antwortete sie.

    Lynley

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