Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
02 - Keiner werfe den ersten Stein

02 - Keiner werfe den ersten Stein

Titel: 02 - Keiner werfe den ersten Stein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elizabeth George
Vom Netzwerk:
unmöglich einer sein konnte.
    »Jetzt hören Sie mal zu. Ich bin nicht bereit ...« begann sie hitzig und erstarrte, als sie die anderen zur Tür hereinkommen sah.
    Wenn Lynley sich überhaupt Gedanken darüber gemacht hatte, was er bei diesem ersten Anblick Helens empfinden würde, so hatte er mit Zärtlichkeit am wenigsten gerechnet. Aber gerade die überfiel ihn unerwartet heftig. Sie sah rührend aus in Pantöffelchen und Nachthemd, über dem sie einen Herrenmantel trug, der ihr viel zu groß war. Die Ärmel waren aufgeschlagen, doch an der Länge des Kleidungsstücks und an der ausladenden Schulterpartie war nichts zu ändern gewesen; es hing ihr wie ein großer Sack um den schlanken Körper und reichte ihr fast bis zu den Füßen. Das kastanienbraune Haar war zerzaust, das Gesicht ungeschminkt, und in dem halbdunklen Raum sah sie aus wie einer von Fagins Knaben, höchstens zwölf Jahre alt und sehr hilfsbedürftig.
    Lynley schoß der Gedanke durch den Kopf, daß er hier das erste Mal überhaupt eine um Worte verlegene Helen erlebte, und er sagte trocken zu ihr: »Wie immer die richtige Garderobe zum richtigen Anlaß, Helen.«
    »Tommy!« Sie griff sich mit einer Geste, die mehr der Verwirrung als Verlegenheit entsprang, ins Haar, und fügte hilflos hinzu: »Du bist nicht in Cornwall.«
    »Nein, ich bin nicht in Cornwall.«
    Der kurze Dialog erweckte die anderen in der Bibliothek plötzlich zum Leben. Während sie bisher schweigend in kleinen Gruppen im Zimmer gesessen oder gestanden hatten, die einen am offenen Kamin, die anderen an der Bar und vor den verglasten Bücherschränken, gerieten sie jetzt alle in Bewegung und begannen fast wie aus einem Mund zu schimpfen. Stimmen schallten aus allen Richtungen. Niemand wartete auf eine Antwort, jeder gab nur seinem Bedürfnis nach, endlich aller Empörung und Wut Luft zu machen. Es ging zu wie in einem Tollhaus.
    »Mein Anwalt wird sich -« »Diese verdammten Polizisten haben uns hier -« »... noch nie so eine Unverschämtheit erlebt!« »Und das nennt man ein zivilisiertes -« ». mich wundert's nicht, daß es mit England immer weiter bergab geht.«
    Ungerührt ließ Lynley seinen Blick von einem zum anderen wandern. Die schweren roten Vorhänge im Zimmer waren zugezogen, und es brannten nur zwei Lampen, doch das Licht reichte ihm, um jeden deutlich wahrzunehmen, ohne sich um die einzelnen Zornausbrüche zu kümmern.
    Die Hauptpersonen des Dramas waren leicht zu erkennen; sie standen jener Person am nächsten, die offenkundig der Mittelpunkt der Gesellschaft war und den ganzen Raum zu beherrschen schien: Englands berühmteste Schauspielerin, Joanna Ellacourt. Sie stand an der Bar, eine kühle Blondine, sehr schön in einem weißen Angorapullover mit passender langer Flanellhose, und schien für die Polizei nichts als eisige Verachtung übrig zu haben. Neben ihr, anscheinend bereit, ihr jeden Wunsch von den Lippen abzulesen, stand ein bulliger älterer Mann mit schwerlidrigen Augen und dichtem, teilweise ergrautem Haar - zweifellos ihr Mann, David Sydeham. Keine zwei Schritte entfernt, auf Joannas anderer Seite, wandte sich ihr Schauspielerkollege Robert Gabriel abrupt wieder seinem Glas auf dem Bartresen zu. Entweder interessierten ihn die Neuankömmlinge nicht, oder er hatte es nötig, sich für die bevorstehende Begegnung zu stärken. Und vor Gabriel stand, hastig sich aus dem Sofa erhebend, auf dem er bisher gesessen hatte, Stuart Rintoul, Lord Stinhurst, und musterte Lynley so scharf, als hätte er die Absicht, ihm eine Rolle in seiner nächsten Produktion zu geben.
    Über die Identität der anderen Personen, die sich im Raum befanden, konnte Lynley nur Vermutungen anstellen. Zwei ältere Frauen am Kamin, höchstwahrscheinlich die Ehefrau und die Schwester Lord Stinhursts; ein korpulenter, unmutig wirkender Mann Mitte Dreißig, der Pfeife rauchte und ein Tweedjackett trug, wahrscheinlich der Journalist Jeremy Vinney; neben ihm auf dem zweisitzigen Sofa eine unglaublich unvorteilhaft gekleidete, reizlose Frau mittleren Alters, lang und dünn wie Lord Stinhurst, vermutlich seine Tochter, auch wenn sie sonst keine Ähnlichkeit mit ihm hatte. Die beiden Teenager, die zum Hotelpersonal gehörten, dicht beisammen in der hintersten Ecke des Raums; und in einem niedrigen Sessel eine schwarzhaarige Frau, deren Gesichtsausdruck Lynley als gehetzt empfand. Schmale Wangen unter großen dunklen Augen, in denen mühsam gezügelte Leidenschaft zu brennen schien. Irene

Weitere Kostenlose Bücher