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02 - Keiner werfe den ersten Stein

02 - Keiner werfe den ersten Stein

Titel: 02 - Keiner werfe den ersten Stein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elizabeth George
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Stille ragte das Haus vor ihnen auf, gespenstisch in einer gespenstisch wirkenden Landschaft. Ganz aus grauem Granit erbaut, ein ehemaliges vorviktorianisches Jagdhaus, breitete es sich mit später angebauten Seitenflügeln aus, gekrönt von einer Unzahl hoher Kamine, streng und bedrohlich trotz des Schnees, der weiß wie frische Sahne auf seinen Dächern lag. Es hatte seltsame, gestufte Giebel, aus kleineren Granitblöcken gemeißelt, die terrassenförmig übereinander getürmt waren, und hinter einem dieser Giebel, zwischen zwei aneinanderstoßenden Flügeln des Hauses, erhob sich wie eine merkwürdige architektonische Fußnote ein mit Schiefer gedeckter Turm, dessen Fenster nackt waren und ohne Licht. Ein weißer Wendelgang aus dorischen Säulen überschattete das breite Portal, berankt von jetzt laublosem wilden Wein. Das ganze Gebäude vereinte in sich die Vorlieben dreier architektonischer Epochen und mindestens ebenso vieler Kulturen. Lynley, der es sich eingehend ansah, fand nicht, daß es das Potential für Macaskins Theorie des romantischen Liebesnests für Jungverheiratete besaß.
    Die Auffahrt war von zahllosen Reifenspuren durchzogen, Zeugnis für die vielen Fahrzeuge, die im Lauf des Tages gekommen und wieder abgefahren waren. Um diese Zeit jedoch wirkte Westerbrae wie ausgestorben. Selbst die Schneefelder um das Haus herum waren unberührt.
    Einen Moment lang blieben sie im Wagen sitzen, ohne sich zu rühren. Dann warf Macaskin einen Blick nach rückwärts zu den Londonern und öffnete die Wagentür. Es war eisig. Nur mit Widerstreben stiegen sie aus.
    Vom See her blies ein schneidender, böiger Wind und erinnerte sie unfreundlich daran, wie hoch im Norden der Loch Achiemore und Westerbrae gelegen waren. Es war ein arktischer Wind, der auf den Wangen brannte und in den Lungen schmerzte und den Duft der Fichten sowie den schwachen Dunst von Torffeuern, die in der Umgebung brannten, mit sich trug. Die Köpfe eingezogen, eilten sie über die Auffahrt zum Haus. Macaskin klopfte kräftig.
    Einer der beiden Männer, die er am Morgen hier zurückgelassen hatte, öffnete ihnen, ein sommersprossiger Constable mit unglaublich großen Händen und einem massigen Körper, der die Knöpfe seiner Uniformjacke zu sprengen drohte. In einer Hand hielt er eine Platte mit den läppischen kleinen Brötchen, wie sie üblicherweise als Dekoration zum Tee gereicht werden. Schmatzend wie ein übergroßes ausgehungertes Kind winkte er sie in die Vorhalle und schlug krachend die Tür hinter ihnen zu.
    »Die Köchin ist vor einer halben Stunde gekommen«, erklärte er krampfhaft schluckend Macaskin, der ihn mit schmallippiger Mißbilligung musterte. »Ich wollte das den Leuten gerade reinbringen. Die haben den ganzen Tag nichts gegessen.«
    Macaskins Miene ließ ihn verlegen schweigen. Mit rotem Kopf trat er unbehaglich von einem Fuß auf den anderen.
    »Wo sind sie?« Lynley sah sich in der großen Halle um, betrachtete die dunkle Täfelung, den bombastischen Kronleuchter, der nicht brannte. Der Boden war ohne Teppich, offensichtlich neu poliert, doch schon wieder beschmutzt von einem großen Fleck, der sich bis zur Treppe hinzog. Alle Türen, die von der Halle abgingen, waren geschlossen; Licht spendete nur eine Lampe auf dem Empfangstisch unter der breiten Treppe. Dort hatte der Constable, den leeren Teetassen und einem Stapel Zeitschriften nach zu urteilen, offenbar für den Tag Posten bezogen.
    »In der Bibliothek«, antwortete Macaskin. Sein Blick huschte argwöhnisch zu seinem Beamten, als fürchte er, das Entgegenkommen, die Verdächtigen mit Essen zu versorgen, könne zu anderen Entgegenkommen geführt haben, für die er würde büßen müssen. »Da sitzen sie seit heute morgen. Stimmt's, Euan?«
    Der junge Constable wagte ein Grinsen. »Stimmt. Außer kurzen Abstechern zur Toilette, die unten im Nordwestkorridor ist. Zwei Minuten höchstens, Tür nicht abgeschlossen, William oder ich als Bewacher.« Während Macaskin die anderen durch die Halle führte, sprach er weiter. »Die eine kocht vor Wut, Inspector. Wahrscheinlich ist sie's nicht gewöhnt, den ganzen Tag im Nachthemd rumzulaufen.«
    Dies war, wie Lynley bald entdeckte, eine durchaus zutreffende Beschreibung von Helen Clydes Stimmung. Als Inspector Macaskin die Tür zur Bibliothek aufsperrte und öffnete, war sie die erste, offensichtlich am Rand ihrer Selbstbeherrschung, die aufsprang. Wie ein Pfeil schoß sie über den Teppich, der aussah wie ein Aubusson, aber

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