02 - Keiner werfe den ersten Stein
sie Rede und Antwort stand, nahm sie verschiedene Geräusche wahr: das Kratzen von Barbara Havers' Bleistift; das Brummen Macaskins, der irgendwelche Anweisungen gab; und von unten, aus der Bibliothek, wo die Tür geöffnet und wieder geschlossen wurde, zornige Stimmen. Zwei Männer. Sie erkannte die Stimmen nicht.
»Wann bist du gestern abend in dein Zimmer gegangen, Helen?«
»Es muß so halb eins gewesen sein. Ich habe nicht darauf geachtet.«
»Was hast du getan, als du hier warst?«
»Ich habe mich ausgezogen, gewaschen und noch eine Zeitlang gelesen.«
»Und dann?«
Helen antwortete nicht gleich. Sie beobachtete Lynleys Gesicht, konnte es ungehindert tun, da er es vermied, sie anzusehen. Seine Züge waren von fast klassischer strenger Schönheit, aber während er jetzt seine Fragen stellte, sah sie, wie sich vor die vertrauten Gesichtszüge eine Maske harter Undurchdringlichkeit schob, die sie nie zuvor an ihm gesehen hatte. Zum ersten Mal in den langen Jahren ihrer Freundschaft fühlte sie sich völlig von Lynley abgeschnitten, und um diese Trennung zu überbrücken, streckte sie einen Arm aus, nicht um ihn zu berühren, sondern in dem Versuch, die innere Verbindung wiederherzustellen, die er offenbar nicht zulassen wollte. Als er nicht reagierte, die Geste mit keiner Bewegung auch nur zur Kenntnis nahm, konnte sie nur noch versuchen, den Stier bei den Hörnern zu packen.
»Du wirkst so schrecklich verärgert, Tommy. Bitte, sag mir, was los ist.«
Lynley machte mit der rechten Hand eine heftige Bewegung. »Seit wann rauchst du?«
Helen merkte, daß Barbara Havers abrupt zu schreiben aufhörte. Sie sah, wie St. James sich in seinem Sessel aufsetzte. Und sie erkannte, daß ihre Frage, aus welchem Grund auch immer, es Lynley ermöglicht hatte, den formellen Rahmen des amtlichen Verhörs, der von Vorschriften und festen Regeln bestimmt war, niederzureißen.
»Du weißt, daß ich nicht rauche.« Sie zog ihre Hand zurück.
»Was hast du gestern nacht gehört?« fragte Lynley. »Joy Sinclair wurde zwischen drei und sechs Uhr ermordet,«
»Nichts. Es war sehr stürmisch. Die Fenster haben richtig geklappert. Das hat wahrscheinlich alle Geräusche aus ihrem Zimmer übertönt. Wenn es überhaupt Geräusche gab.«
»Und außerdem warst du ja nicht allein, nicht wahr? Du warst sicher - abgelenkt.«
»Ja, das stimmt. Ich war nicht allein.« Sie sah, wie sein Mund schmal wurde. Sonst zeigte er keine Regung.
»Um welche Zeit ist Davies-Jones zu dir ins Zimmer gekommen?«
»Um eins.«
»Und wann ist er wieder gegangen?«
»Kurz nach fünf.«
»Du hast auf die Uhr gesehen?«
»Er hat mich geweckt. Er war angezogen. Ich fragte, wie spät es sei, und er sagte es mir.«
»Und zwischen eins und fünf, Helen?«
Sie starrte ihn ungläubig an. »Was genau möchtest du wissen?«
»Ich möchte wissen, was in diesem Zimmer zwischen eins und fünf vorging. Um dein eigenes Wort zu gebrauchen: genau.«
In ihrer Erschütterung über die verletzende Frage selbst - ein brutaler Eingriff in ihr Leben - und über die darin enthaltene selbstverständliche Annahme, daß sie ehrlich antworten würde, sah Helen, wie Barbara Havers den Mund öffnete. Sie schloß ihn jedoch sehr rasch, als Lynleys eisiger Blick sie traf.
»Warum fragst du mich das?« fragte Helen.
»Möchtest du einen Anwalt, der dir erklärt, welche Fragen ich im Rahmen meiner Ermittlungsarbeit stellen darf und welche nicht? Wir können einen anrufen, wenn du das für erforderlich hältst.«
Das ist nicht mein Freund, dachte Helen ungläubig. Das ist nicht der Mann, den ich seit mehr als zehn Jahren kenne. Dieser Mann war ihr fremd. Widersprüchliche Gefühle tobten in ihr: Zorn, Schmerz, tiefe Enttäuschung. Nur mit größter Anstrengung konnte sie den Anschein von Gleichmut wahren.
»Rhys hat mir Cognac gebracht.« Sie wies auf die Flasche, die auf dem Tisch stand. »Wir haben uns unterhalten.«
»Hast du etwas getrunken?«
»Nein. Ich hatte vorher schon was getrunken. Ich wollte nichts mehr.«
»Und er?«
»Nein. Er - kann nicht trinken.«
Lynley sah Havers an. »Sagen Sie Macaskins Leuten, sie sollen sich die Flasche ansehen.«
Helen wußte, was hinter der Anweisung stand. »Sie ist versiegelt.«
»Nein, das ist sie leider nicht.« Lynley nahm Havers' Bleistift und hob die Folie über dem Korken der Cognacflasche an. Sie ließ sich leicht herunternehmen; als sei sie schon einmal entfernt und dann wieder übergestreift worden.
Helen war elend.
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